Warum Sie Ihr Kind niemals bestrafen sollten

Erziehung Warum Sie Ihr Kind niemals bestrafen sollten

Von Fanny Jiménez, Uwe Schmitt | Veröffentlicht am 28.01.2017 | Lesedauer: 7 Minuten

https://www.welt.de/gesundheit/psychologie/article161593831/Warum-Sie-Ihr-Kind-niemals-bestrafen-sollten.html

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Strafen führen womöglich dazu, dass Kinder sich schlecht fühlen, bringen ihnen aber keine Disziplin bei

Quelle: Getty Images

Die Zeiten, in denen Kinder körperlich bestraft wurden sind vorbei. Dennoch: Viele Eltern setzen auf alternative Bestrafungen. Das ist nicht gut, sagen Experten. Denn es gibt auch andere Wege.

Ihre Erziehung beruht auf einem einzigen Gefühl: Wut. Das wird den Eltern klar, als sie mit ihrer Tochter in der Erziehungs- und Familienberatung der Caritas in Berlin-Mitte sitzen. Die Kleine ist sechs, wird schnell wütend und macht dann kaputt, was sie gerade vor sich hat: Spielzeug, Vasen, Geschirr. Das wiederum macht die Eltern so wütend, dass sie sie bestrafen. Manchmal so, dass es ihnen hinterher leidtut. Aber trotzdem explodieren sie jedes Mal wieder, wenn ihr Kind explodiert.

So ähnlich sehen die Fälle aus, mit denen Sabine Schäfer und Berin Arukaslan täglich arbeiten. Die beiden Beraterinnen haben viele Eltern am Telefon, die Sätze sagen wie: „Mir rutscht oft die Hand aus, aber nichts anderes hilft“, oder: „Ich weiß einfach nicht mehr, was ich machen soll mit dem Kind“.

Schlechte Zensuren sorgen für Streit

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Viele Schüler bekommen in dieser Woche ihre Halbjahreszeugnisse. Für einige dürfte da auch Zoff ins Haus stehen. Laut einer Umfrage sorgen schlechte Noten in jeder zweiten Familien für schlechte Stimmung.

Früher war das alles ganz einfach. Folgte ein Kind nicht, wurde es bestraft, körperlich. Backpfeifen und eine ordentliche Tracht Prügel zählten lange Zeit zum gesellschaftlich akzeptierten Repertoire der Erziehung. Erst seit dem Jahr 2000 haben deutsche Kinder mit der Verschärfung des Paragrafen 1631 BGB das Recht auf eine „gewaltfreie Erziehung“ – weil Schläge dem Kind nachweislich schaden und es aggressiv und depressiv werden lassen.

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Seither bemühen sich Eltern um Alternativen, wenn es um Strafen geht. Doch die wissenschaftliche Forschung zeigt, dass es Kindern auch schadet, sie anzuschreien, auszuschließen, oder ihnen Privilegien zu entziehen. Strafen, sagen Experten mittlerweile, haben in der Erziehung schlichtweg nichts verloren. Nicht nur, weil sie schaden. Sondern auch, weil es gut ohne sie geht.

Geschlagene Kinder sind Risikokinder

Mit dem Verbot der körperlichen Züchtigung vor 17 Jahren beugte sich der Gesetzgeber der erdrückenden wissenschaftlichen Beweislast und erklärte „körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen“ für unzulässig. Unzählige Studien hatten gezeigt, dass Backpfeifen oder eine Tracht Prügel langfristig viel Schaden verursachen.

Ein geschlagenes Kind wird selbst später aggressiv und hat ein erhöhtes Risiko, antisoziales Verhalten zu entwickeln, eine Depression oder eine Suchterkrankungen. Auch der Zusammenhang zwischen erlittener Gewalt in der Kindheit und der Neigung, eines Tages kriminelle Gewalt auszuüben, ist vielfach belegt.

Seit dem Verbot sinkt die Akzeptanz körperlicher Züchtigung als Strafe für Kinder, neun von zehn Erwachsenen in Deutschland lehnen sie heute ab.

Über den Alltag in den Familien sagt das allerdings wenig. „Noch immer scheinen rund 25 Prozent der Eltern ihre Kinder gewaltbelastet zu erziehen, und das ist zu viel“, sagt Rainer Becker, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Kinderhilfe. Die Gewaltstudie 2013 der Universität Bielefeld hatte diese Zahl erhoben. Zwar habe nach dem gesetzlichen Verbot die Zahl der Eltern die ihre Kinder schlagen, zunächst rasch abgenommen, inzwischen aber stagniere sie.

Strafen vergiften die Beziehung zwischen Eltern und Kind

Dass rund Dreiviertel der Eltern danach von schlechtem Gewissen geplagt wurde, hilft den Kindern nicht viel. Kurzfristig wirken Schläge zwar vor allem bei kleineren Kindern, sie werden folgsam aus Angst und aus dem Glauben heraus, schlecht zu sein und solch harte Strafen zu verdienen. Doch ab einem Alter von etwa sieben Jahren wächst der Widerwille gegen die Bestrafung – und damit der Widerstand gegen die Eltern.

Kinder beginnen zum Eigenschutz dann häufig zu lügen, wie die Erziehungswissenschaftlerinnen Renate Valtin und Sabine Walper in einer Studie herausfanden, die die Sicht der Kinder auf Strafen untersuchte. Langfristig, sagt Rainer Becker, hätten Schläge vor allem eine Wirkung: Sie würden die Beziehung zwischen Eltern und Kindern vergiften.

Deshalb habe Gewalt in der Privatsphäre nirgendwo etwas zu suchen – nichts kann ihm zufolge Schläge als Strafe rechtfertigen. Sabine Schäfer, die seit 15 Jahren bei der Erziehungsberatung in Berlin arbeitet, sagt das Gleiche: „Das Problem der Strafe ist, dass sie der Beziehung zwischen Eltern und Kind schadet.“ Die Familientherapeutin meint damit nicht nur körperliche Strafen, sondern jede Form der Strafe.

Denn auch Kinder anzuschreien, sie zu erniedrigen, auszugrenzen oder zu beleidigen hat Folgen, wie Untersuchungen zeigen: Das Selbstvertrauen leidet enorm, die Kinder beginnen zu lispeln oder zu stottern, einzunässen und schlecht zu schlafen, oder sie entwickeln starke Ängste.

Strafen lehren ein Kind nicht Disziplin

Experten wie die Pädagogin Valya Telep von der Virginia State University sagen deshalb: Strafen haben in der Erziehung nichts verloren. „Effektive Disziplin hilft Kindern dabei zu lernen, ihr Verhalten zu steuern, weil sie verstehen, was falsch und richtig ist – und nicht, weil sie Angst vor Strafen haben“, schreibt sie in einem Leitfaden der Uni.

Strafen zeigen dem Kind dass man Probleme mit Gewalt lösen kann, oder durch Macht, glaubt sie. Es führt dazu, dass sie sich schlecht fühlen, unfähig, oder ungerecht behandelt. Es bringt ihnen aber nicht Disziplin in dem Sinne bei, die wirklichen Konsequenzen ihres Verhaltens zu verstehen, zu steuern und zu ändern – weil sich die Eltern mit ihren Strafen dazwischen stellen.

Das wünschen sich Kinder von ihren Eltern

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Jede Menge Spielzeug wird sich auch dieses Jahr unter den Weihnachtsbäumen finden. Was Kinderherzen aber wirklich höher schlagen lässt, haben Forscher der Universität Oxford herausgefunden.

Quelle: Die Welt

Wenn Familien zu Sabine Schäfer kommen, zu Einzelgesprächen oder zu Gruppensitzungen mit anderen Eltern, lernen sie deshalb um. „Manchmal sollten Eltern sich viel mehr zurücknehmen, viel weniger reden und tun, als sie denken“, sagt Schäfer. Vor allem, wenn ein Verhalten des Kindes ganz natürlich Konsequenzen nach sich zieht.

Rennt ein Dreijähriger zu schnell, fällt er hin. Kleckert eine Fünfjährige beim Essen, muss sie aufwischen. Vergisst das Schulkind die Brotdose, hat es kein Frühstück. Das zu erleben, sei viel lehrreicher, als Eltern, die schimpfend und strafend dazwischengehen – also die Konsequenz verhindern, aber Stress verursachen. So etwas sollten Eltern zulassen können, ohne zu kommentieren.

Was natürliche und logische Konsequenzen sind

Manchmal aber, sagt Schäfer, gebe es solche natürlichen Konsequenzen nicht oder sie seien zu riskant. Ein Kind, das keinen Fahrradhelm tragen will etwa. Oder eines, das sich weigert, die Zähne zu putzen. Dann sollten Eltern logische Konsequenzen suchen, die eine enge Verbindung mit der Tat haben. „Sie sollten gut überlegen und planen: Was sind meine Regeln, und welchen Weg zeige ich meinem Kind, wenn es diese Regeln verletzt?“

Smartphones und Co. – ein Kinderspiel?

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Mit dem Smartphone Fotos machen, auf dem Tablet Videos anschauen, oder online Spiele zocken. Für viele Kinder ist das Alltag. Aber sind die digitalen Spielzeuge auch gut für die Kleinen?

Quelle: Die Welt

Oft, sagt die Therapeutin, gebe es in Familien keine klaren Regeln, oder das Kind kenne sie nicht. Wenn die Regel ist, dass beim Fahrradfahren ein Helm getragen wird, kann das Kind sich zwar entscheiden, den Helm nicht aufzusetzen – dann werde aber eben auch nicht Fahrrad gefahren. Je konsequenter und ruhiger man das bespreche, umso effektiver, sagt Schäfer. Wichtig sei auch, dem Kind aus dem Schlamassel zu helfen, wenn eine Regel gebrochen sei.

Beißt ein Kind etwa vor Wut seinen Bruder, nimmt man es sofort beiseite und sagt: „Beißen ist nicht okay! Du bist gerade wütend, aber das kannst du deinem Bruder sagen.“ In kleinen Gruppen erarbeiten die Eltern in Sabine Schäfers Kurs Lösungen für solche Probleme. Sie im Alltag durchzusetzen, dauert meist etwas, so ist ihre Erfahrung – und fordert von den Eltern genauso Disziplin und Geduld wie von den Kindern.

Ruhe und Konsequenz ist wichtig

Familien, in denen es keine klaren Regeln gibt und Erziehung daher oft auf Wut beruht, geraten schnell in einen Teufelskreis, in dem die Strafen immer härter werden. „Die Eltern sind dann so überfordert und verzweifelt, dass sie kein Gespür mehr dafür haben, was ihre Strafen beim Kind anrichten“, sagt ein Sozialarbeiter des Jugendamtes, der anonym bleiben möchte.

Er wurde schon von Nachbarn angerufen, die einen achtjährigen Jungen nachts im Pyjama vor der eigenen Haustür in der Kälte stehen sahen; die Eltern hatten ihn zur Strafe ausgesperrt. Diesen Familien verordnet das Jugendamt oft Hilfen zur Erziehung. Fast immer verbessert sich dadurch nicht nur das Verhalten des Kindes, sondern auch die Beziehung zwischen Eltern und Kindern.

Viele Mütter und Väter aber spüren früh, wenn Probleme auftauchen. „Die meisten kommen von sich aus auf uns zu“, sagt Berin Aruskaslan von der Familienberatung in Mitte. „Sie wissen oft genau, was sie nicht wollen und halten sich sehr daran fest – wissen aber nicht, wie sie das erreichen können.“

In einem Fall wie dem des Mädchens, das alles kaputt macht, helfen die natürlichen Konsequenzen, und Eltern, die ruhig bleiben. Ein Lego-Schloss, dass sie zerschlagen hat, bleibt in Teilen, kommentarlos. Bis das Mädchen sagt „Doof, dass das Schloss kaputt ist. Können wir es wieder aufbauen?“