1000 Jahre Mittelalter in zwei Doppelstunden

 

Mo, 9. Jul. 2012
Aachener Nachrichten – Stadt / Leserbriefe / Seite 5

1000 Jahre Mittelalter in zwei Doppelstunden

Stefan Flosbach aus Aachen beschäftigt sich mit der Studie Zeitgeschichtswissen, die herausfand, dass 40 Prozent der Schüler nicht zwischen Demokratie und Diktatur unterscheiden können:

Die Ergebnisse der Untersuchung überraschen mich als Geschichtslehrer nicht. Man muss hier erklärend erläutern, wie der Geschichtsunterricht in NRW aufgebaut ist. Geschichte wird in der Sekundarstufe I nur als mündliches Fach unterrichtet, wodurch die Schüler dem Fach wenig Wert beimessen, obwohl ihm im Rahmen der Entwicklung von Urteilsvermögen und eigenständiger Meinung offiziell eine große Bedeutung zugewiesen wird. Es ist einfach so, ein Fach, das keine schriftlichen Leistungsüberprüfungen vorsieht, wird von Schülerseite weniger ernst genommen.

Hinzu kommt, dass das Fach trotz Protesten der Geschichtslehrer weiterhin nur zerstückelt unterrichtet wird.

Geschichte soll ein Jahr lang in den Klassen fünf oder sechs und muss in der Klasse neun unterrichtet werden. Das verbleibende dritte Jahr findet in der sieben oder acht statt. Hier gibt es verschiedene Modelle, die alle fehlerhaft sind. Geschichte setzt ein gewisses Verständnis voraus, woraufhin es an vielen Schulen ab der sechsten Klasse unterrichtet wird. Immer gibt es ein Jahr Unterbrechung, wobei Schüler schon Probleme haben, den Stoff von vor vier Wochen wieder abzurufen. Gerade in der sechsten sind Schüler von Geschichte begeistert, dürsten danach, etwas über zum Beispiel NS-Geschichte zu erfahren, wobei man den Schülern dann mitteilen muss, dass das erst Stoff der neun ist.

Neben der kontraproduktiven Pause von zwölf Monaten macht uns Geschichtslehrern die Stofffülle zu schaffen, die in diesen drei Jahren durchgehechelt werden muss. Im ersten der drei Jahre Geschichte sehen Buch und Lehrplan folgende Themen vor: Was ist Geschichte? – Steinzeit – Ägypten – Griechen – Römer – das komplette, weichgespülte Mittelalter ohne jegliche Konflikte.

Wer die Grundbegriffe weglässt und gleich mit den Ägyptern einsetzt, hat eine Chance, mit dem Stoff durchzukommen. Bei vielen Klassen reduzieren sich 1000 Jahre Mittelalter auf zwei Doppelstunden, da im Sommer durch die Maifeiertage, Brückentage, hitzefrei, Sonderveranstaltungen (Wandertag, Bundesjugendspiele etc.) regelmäßig Stunden ausfallen.

Ein anderes Problem ist die geringe Verbreitung von Tageszeitungen unter jungen Leuten. In meinen Oberstufenkursen räume ich jede Woche 20 bis 30 Minuten für eine aktuelle Presseschau ein, da die Aachener Zeitung/Nachrichten in der Regel jede Woche fünf bis sechs brauchbare Artikel zu geschichtlichen Themen bieten, von archäologischen Funden in Aachen über Berichte über NS-Verbrechen bis hin zu Kunstausstellungen, die sich mit historischen Themen befassen.

Obwohl ich hier die Beteiligung positiv in die sonstige Mitarbeit einfließen lasse, bringen in der Regel lediglich drei von 22 Schülern die Zeitung mit, der Rest liest keine Zeitung oder interessiert sich nicht.

Wer bessere Kenntnisse in Sachen Zeitgeschichte haben will, muss Lehrern und Schülern dafür mehr kontinuierliche Zeit einräumen und das Interesse der Schüler an Zeitungen und Zeitgeschichte wecken. Medien und Internet bieten genug Informationen zum Herausbilden eines Geschichtsbewusstseins, die Angebote werden leider oftmals nicht (richtig) genutzt.

„Es ist einfach so, ein Fach, das keine schriftlichen Leistungsüberprüfungen vorsieht, wird von Schülerseite weniger ernst genommen.“

Stefan Flosbach, Geschichtslehrer aus Aachen

„Immer gibt es im Fach Geschichte ein Jahr Unterbrechung, wobei Schüler schon Probleme haben, den Stoff von vor vier Wochen wieder abzurufen.“

Stefan Flosbach

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