93-jähriger Auschwitz-Wachmann wird angeklagt

Mo, 14. Dez. 2015
Aachener Nachrichten – Stadt / Region AN Titel / Seite 9

93-jähriger Auschwitz-Wachmann wird angeklagt

Späte Aufarbeitung: Mitte Februar beginnt der Prozess gegen den Mann aus Lippe. Vorwurf: Beihilfe zum Mord in 170 000 Fällen.

Von Florentine Dame

Detmold/Dortmund. Für Auschwitz-Überlebende und ihre Nachkommen ist es ein spätes aber wichtiges Zeichen: Das Landgericht Detmold macht einem Mann den Prozess, der vor mehr als 70 Jahren Wachmann im Vernichtungslager Auschwitz gewesen sein soll. Die nordrhein-westfälische Zentralstelle für NS-Verbrechen bei der Staatsanwaltschaft Dortmund wirft dem heute 93-Jährigen vor, zwischen 1943 und 1944 am Massenmord in dem KZ beteiligt gewesen zu sein.

Nach Erkenntnissen der Dortmunder Ermittler soll der damalige Unterscharführer der SS 1942 in das Konzentrationslager Auschwitz versetzt worden sein. Der Anklage zufolge wachte er über die Ankunft jüdischer Deportationsopfer, über Massenerschießungen, war beteiligt an der Selektion kranker und schwacher Gefangener. Beihilfe zum Mord in mehr als 170 000 Fällen wirft ihm die Staatsanwaltschaft vor.

Der Mann aus Lippe habe als Wachmann die vieltausendfachen Tötungen der Lagerinsassen fördern oder zumindest erleichtern wollen, wirft ihm die Anklage weiter vor. Ihm sei bewusst gewesen, dass das System Vernichtungslager nur funktionieren konnte, wenn die Opfer durch Gehilfen wie ihn bewacht wurden.

„Alles, was einen gewissen Ausgleich schafft zur jahrzehntelangen Untätigkeit der Justiz, ist für die Überlebenden eine gute Nachricht“, sagt Christoph Heubner, Exekutiv-Vizepräsident des Internationalen Auschwitz-Komitees. „Das Verfahren wird weltweit Aufmerksamkeit erregen – als gutes Signal, dass Aufarbeitung nach so langer Zeit doch noch möglich ist.“ Große Aufmerksamkeit wird dem Prozess auch deshalb zuteil, weil er mehr als 70 Jahre nach Kriegsende einer der letzten sein wird, in dem die Täter von damals zur Verantwortung gezogen werden können.

In jüngster Zeit waren einige hochbetagte NS-Kriegsverbrecher für schuldig erklärt worden, weil sie ihren Teil zum Funktionieren der Tötungsmaschine beitrugen. Erst im Sommer hatte das Landgericht Lüneburg in einem noch nicht rechtskräftigen Schuldspruch Oskar Gröning als „Buchhalter von Auschwitz“ zu vier Jahren Haft verurteilt.

In den Prozessen gehe es um Genugtuung und eine längst überfällige Korrektur einer empörenden Rechtsauffassung, erklärt Werner Renz. Er ist Mitarbeiter des Fritz Bauer Instituts, das sich mit der Geschichte des Holocaust und dessen Aufarbeitung beschäftigt. „Viele Täter des Verwaltungsapparats oder Wachleute von damals sind nie belangt worden“, sagt er. Erst mit den Ermittlungen und Prozessen der vergangenen Jahre habe sich das geändert. „Für die allermeisten ist es zu spät.“

Als ein Dammbruch gilt das Münchener Urteil gegen den NS-Kriegsverbrecher John Demjanjuk. Während der Vorermittlungen gegen den Aufseher des Vernichtungslagers Sobibor definierte die NS-Fahndungsstelle in Ludwigsburg die Frage der Beihilfe neu: Demnach ist jeder zu belangen, der in einem Konzentrationslager dazu beigetragen hat, dass die Tötungsmaschinerie funktionierte – egal ob direkt als Befüller der Gaskammern oder indirekt etwa als Koch.

Der Fall Heinrich Boere am Aachener Landgericht

Am Landgericht Aachen wurde ein Fall um den deutsch-niederländischen Kriegsverbrecher Heinrich Boere verhandelt. Als Mitglied der SS gehörte er während der deutschen Besetzung der Niederlande im Zweiten Weltkrieg dem sogenannten Sonderkommando Silbertanne an, das im Rahmen von Vergeltungsaktionen den Widerstand bekämpfte und unbewaffnete Zivilisten erschoss.

Boere wurde 2010 deshalb wegen dreifachen Mordes verurteilt. Am 15. Dezember 2011 trat Boere – im Alter von 90 Jahren – seine Haftstrafe an. Er starb im Dezember 2013.

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