Joycenter: Der Buchstabe macht den Unterschied

 

Mi, 27. Jun. 2012
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Joycenter: Der Buchstabe macht den Unterschied

Aachener gründen eine Selbsthilfe-Plattform, die Hartz-IV-Empfängern helfen soll. Betreiber des „Jobcenter 2.0“ haben Mühe, allen Anfragen nachzukommen.

Von Gerald Eimer

Aachen. Ein Buchstabe macht den Unterschied: „Joycenter“ haben mehrere Hartz-IV-Empfänger aus Aachen ihr neues Internet-Angebot genannt, das Leistungsempfängern zwar nicht unbedingt mehr Freude verschafft, ihr Leben und die Zusammenarbeit mit den Jobcentern aber doch erleichtern soll.

Die ersten Klickzahlen sind ein Indiz dafür, dass es offenbar höchste Zeit für die Selbsthilfe-Plattform „joycenter.net“ war, die mit dem Zusatz „Dein Jobcenter 2.0“ für sich wirbt. Obwohl sie erst seit kurzem freigeschaltet ist, ist die Nachfrage schon jetzt so groß, dass die Betreiber Mühe haben, allen Anfragen nachzukommen. „Der Bedarf ist riesig“, sagt Klaus Heck. Der Sozialpädagoge und ehemalige Unternehmer, der heute selbst von Hartz IV betroffen ist, treibt das Joycenter maßgeblich mit voran. Zwischen fünf und neun Menschen und Berater sorgen regelmäßig im Hintergrund dafür, dass die Seite läuft.

Beraten, fördern und vermitteln

„Wir beraten, fördern und vermitteln – aber so, wie Du es gut findest“, heißt es auf der Eingangsseite. Woraus man im Umkehrschluss ableiten könnte, dass die Mitarbeiter der Jobcenter-Behörde genau dies nicht tun.

„Das Jobcenter ist nicht unser Hauptgegner“, erklärt Heck. „Unsere Gegner sind die Politiker, die diese Gesetze beschlossen haben“, meinen er und seine Mitstreiter Edwin Sengewald und Helga Ebel, die auch in der Netzwerk-Initiative SGB II aktiv ist. Sieben Jahre nach der unter Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) verabschiedeten Sozialreform lautet ihr Fazit: „Die Agenda 2010 ist ein Unglück, Hartz IV muss weg.“

Die Gründe, die sie anführen, sind vielfältig: Das fängt damit an, dass es heute kein „armutsfestes Arbeitslosengeld“ mehr gibt und das Millionenheer der Hartz-IV-Empfänger akut von Altersarmut bedroht ist. Es geht weiter damit, dass über Ein-Euro-Jobs und den Zwang, jeden sich bietenden Job anzunehmen, nicht nur das Grundrecht auf die freie Berufswahl außer Kraft gesetzt wurde, sondern auch ein Beitrag zum Lohndumping geleistet wurde. Und es endet längst noch nicht damit, dass ein riesiger Überwachungsapparat aufgebaut wurde, der Hilfeempfängern stetigen Sozialbetrug unterstellt. Leistungsbezieher sehen sich heute permanenten Kontrollen ausgesetzt und von Sanktionen bedroht. Zugleich fühlen sie sich oft genug der Willkür von Sachbearbeitern ausgesetzt.

An dieser Stelle aber setzt Joycenter an: Die überwiegende Mehrheit der Jobcenter-Beschäftigten sei freundlich und hilfsbereit, sagt Heck. Ihr Problem sei, dass die Gesetze permanent überarbeitet und dadurch immer unüberschaubarer werden.

Das Regelwerk umfasse heute mehr als 1000 Seiten, kaum ein Sachbearbeiter habe es gelesen, geschweige denn, dass es entsprechende Fortbildungen für sie geben würde. „Viel zu wenige Sachbearbeiter haben viel zu viele Aufgaben“, nimmt Heck die Jobcenter-Beschäftigten gar in Schutz. Die meisten litten ohnehin mehr als genug unter ihrem schlechten Image: „Die wollen sich inzwischen genauso wenig outen wie Hartz-IV-Empfänger.“

Kein Wunder jedenfalls, dass die Sozialgerichte mit der Flut der Klagen und Einsprüche kaum noch klar kämen. Alleine in der Städteregion Aachen würden die Jobcenter Jahr für Jahr zigtausend fehlerhafte Bescheide versenden, ist Helga Ebel überzeugt.

Wichtigstes Thema sei der Streit um zu große oder zu teure Wohnungen. Oft würden für die Betroffenen völlig überraschend Zwangsumzüge angeordnet. Ein großes Thema sind aber auch Sanktionen, die für Hartz-IV-Bezieher existenziell werden können: Etwa, wenn ihnen Geld gekürzt wird, weil sie nicht genügend Bewerbungen geschrieben oder angeordneten Maßnahmen nicht nachgekommen sind.

Anfrage aus dem Allgäu

„In solchen Fällen geben wir Geleitschutz“, sagt Klaus Heck. „Die Betroffenen sollen das Gefühl haben, nicht alleine zu sein.“ Auf joycenter.net können sie sich kundig machen. Mit dem auf Sozialrecht spezialisierten Rechtsanwalt Raimund Haack als Joycenter-Berater könne sogar eine Rechtsberatung gewährt werden.

Seit Ende Mai ist „joycenter.net“ online. Als Zielgruppe hatte man anfangs eigentlich nur die rund 50 000 Hartz-IV-Empfänger in der Städteregion im Blick, doch schnell spürte man, dass das Internet solche Grenzen nicht kennt. Inzwischen kämen Anfragen aus ganz Deutschland, sagt Heck. Vor allem aus ländlichen Räumen – dort, wo es kaum Beratungsstellen gibt – melden sich viele Betroffene. Erst jüngst habe man eine Anfrage aus dem Allgäu bearbeitet.

Dass sich die ehrenamtlichen Berater dabei auch Kritik ausgesetzt sehen, bleibt nicht aus. „Ihr seid doch auch nur ein Teil der Armutsindustrie“, wurde ihnen von einem Nutzer bereits vorgeworfen. Dem aber widersprechen Heck und Ebel energisch.

Mit Sozialkaufhäusern, den sogenannten Tafeln (wo es Lebensmittel für Bedürftige gibt) oder fragwürdigen Qualifizierungseinrichtungen wollen sie nicht gleichgesetzt werden. Im Gegenteil: „Das sind nicht die Guten“, sagen sie.

Das Problem der „Drohkulisse“

Die meisten Anbieter werden in ihren Augen viel zu wenig kontrolliert. In Qualifizierungsmaßnahmen würden „Unsummen“ gesteckt, die für den ersten Arbeitsmarkt nichts bringen. Ein-Euro-Jobber würden als billige Arbeitskräfte missbraucht. Und die Tafeln liefern denjenigen Argumente, die die Sätze für die Regelleistungen lieber absenken als anheben wollten. „Sie sind Teil eines Almosensystems“, sagt Helga Ebel, die es beschämend findet, dass es in „einem so reichen Land“ Tafeln gibt.

„Man muss von einem normalen Hartz-IV-Satz nicht hungern“, sagt Heck. Problematisch ist für ihn viel mehr die „Drohkulisse“, die um Hartz IV herum aufgebaut wurde. Die Hälfte der Sozialausgaben in der Bundesrepublik flößen nicht in die Leistungen, sondern in die Verwaltungskosten der Jobcenter, kritisiert er.

Es gebe eine Lösung. Und die heißt aus Sicht von Heck und Kollegen: Bedingungsloses Grundeinkommen. Es würde freilich einen Großteil des jetzigen Verwaltungsapparats überflüssig machen.

Das Angebot im Netz:

www.joycenter.net

Unsinnige Beschäftigungsmaßnahmen: „Man jagt einem Phantom hinterher“

Harte Kritik üben die Betreiber von „joycenter.net“ an den öffentlich geförderten und von den Jobcentern vermittelten Beschäftigungsmaßnahmen. In der Theorie sollen dadurch erwerbsfähige Hartz-IV-Empfänger wieder an den Arbeitsmarkt herangeführt werden. Begrenzt vorhandene Gelder werden jedoch vielfach für unsinnige Maßnahmen ausgegeben, ist Klaus Heck überzeugt.

Gefördert würden in erster Linie Bewerbungstrainings, Ein-Euro-Jobs, Computerkurse und sogenannte Softskill-Trainings. „Man jagt damit einem Phantom hinterher“, kritisiert Heck. „Kein Stück“ würden Leistungsbezieher auf diese Weise näher an den Arbeitsmarkt gebracht. Chancen für eine „wirkliche Förderung“ würden hingegen vertan.

Ein Beispiel sei die Geschichte von Edwin Sengewald. Der gelernte Radio- und Fernsehtechniker erkrankte vor Jahren lebensbedrohlich an Krebs, musste seinen Beruf aufgeben, gilt heute als behindert. Er machte nach seiner Genesung eine Umschulung zum Bürokaufmann, fand dennoch keine Anstellung mehr.

Anfang des Jahres entdeckte
Sengewald das Angebot für eine Reha-Weiterbildung zum Verwaltungsfachangestellten mit Aussicht auf Festanstellung beim Land NRW.

Einzige Voraussetzung: Er hätte einen 500 Euro teuren einwöchigen Qualifizierungstest absolvieren müssen. Das wurde Anfang Juni vom Jobcenter abgelehnt. Begründung:
Sengewald könne ja noch einen Arbeitsplatz als Bürokaufmann finden.

Hier hätte man Geld für eine „wirklich sinnvolle Integrationsleistung“ ausgeben können, meint Heck, der die Ablehnung „zynisch“ nennt. Eine Belastung sei dies nicht nur für den Betroffenen, sondern auch für die Steuerzahler.
Foto: imago/obermeier

„Das Jobcenter ist nicht unser Hauptgegner. Unsere Gegner sind die Politiker, die diese Gesetze beschlossen haben.“

Klaus Heck,

Joycenter-Mitbegründer

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