„Mediziner fürchten Historiker“

Do, 10. Okt. 2013
Aachener Nachrichten – Stadt / Region AN Titel / Seite 9

„Mediziner fürchten Historiker“

Tagung in Aachen zur Rolle medizinischer Fachgesellschaften von 1933 bis 1945

Von Marlon Gego

Aachen. Gemessen an der Flut der Dokumentationen über den Nationalsozialismus, die mittlerweile auch das Nachmittagsprogramm einiger Privatfernsehsender erreicht hat, sollte man meinen, die allermeisten Gebiete des Dritten Reiches seien nun doch wissenschaftlich ausgeleuchtet. Dass dies aber noch lange nicht der Fall ist, zeigte eine Fachtagung in Aachen, die sich bis gestern mit den medizinischen Fachgesellschaften im Nationalsozialismus beschäftigte. Und obwohl es noch viel zu erforschen gibt, lässt sich wohl jetzt schon feststellen: Die Verstrickung der Mediziner in Hitlers Machtapparat war erheblich größer, als zu ahnen gewesen wäre.

Der Anteil der deutschen Mediziner mit NSDAP-Ausweis betrug etwa 50, im Rheinland sogar 60 Prozent, sagte Dominik Groß, als Leiter des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der RWTH auch Veranstalter der Tagung im Suermondt-Ludwig-Museum. Dass derart viele Ärzte Parteimitglieder waren, führt Groß zum einen darauf zurück, dass die Partei Mediziner grundsätzlich privilegierte, schon weil ihnen bei Umsetzung der 1935 erlassenen Rassegesetze eine entscheidende Rolle zukam. Zum anderen aber auch, weil den vielen jüdischen Ärzten nach und nach die Arbeitserlaubnis verweigert wurde und so Mediziner nachrücken konnten, sagte Groß, denen unter normalen Umständen die wissenschaftliche Eignung abgesprochen worden wäre. Während des Dritten Reiches war ein Parteibuch bei den medizinischen Prüfungen und der Besetzung von Stellen jedenfalls von Vorteil.

Der Widerstand hält sich

Die Rolle von Psychiatern im Nationalsozialismus ist inzwischen auch deswegen weitgehend erforscht und dokumentiert, weil die Psychiater maßgeblichen Anteil an der Umsetzung der Euthanasievorschriften hatten. Bei anderen Fachgesellschaften hat es deutlich länger gedauert, bis Forschung ermöglicht wurde, andere wehren sich bis heute dagegen. Der Vizepräsident der Bundeszahnärztekammer, Dietmar Oesterreich, erklärte in Aachen, sich für Forschungsprojekte zur Rolle von Zahnärzten im Dritten Reich einsetzen zu wollen. Historiker Michael Hubenstorf aus Wien erwiderte, skeptisch zu sein; denn seinem Kenntnisstand nach sei der Vater eines hohen Funktionärs in der Bundeszahnärztekammer KZ-Zahnarzt gewesen. Oesterreich war erstaunt.

Dieser Fall sei keineswegs ein Einzelfall und zeige exemplarisch, sagte Groß, dass einige, nicht alle Fachgesellschaften nach wie vor erheblichen Widerstand gegen wissenschaftliche Aufklärung leisteten: „Mediziner fürchten Historiker.“ Zwar seien Zahnärzte nicht an der staatlich verordneten Euthanasie beteiligt gewesen, hätten aber, eben zum Beispiel als KZ-Ärzte, Todgeweihten Goldfüllungen entfernt oder Zähne ohne medizinische Indikation gezogen. Das Problem ist, dass diesbezügliche „Forschung gegen die Fachgesellschaften fast unmöglich ist“, sagte Matthis Krischel, Mitarbeiter an Groß‘ Institut. Denn das Geld für solche Forschungsprojekte, die über Jahre angelegt sind, kommt in aller Regel von den Fachgesellschaften selbst.

Die Tagung muss schon deswegen als Erfolg gewertet werden, weil kein Teilnehmer Aachen ohne neue Ideen für Quellen oder Methodik verließ. Dass es andererseits noch viel zu tun gibt, auch darin waren sich die Teilnehmer einig.

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