NS-Altlasten der Justiz

Interessanter Artikel der Aachener Nachrichten – Stadtausgabe

NS-Altlasten der Justiz
Neue Studie zu Richtern an NRW-Sozialgerichten

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20.12.2016

NS-Altlasten der Justiz

Neue Studie zu Richtern an NRW-Sozialgerichten

Von Fabian May

Essen/Düsseldorf. Todesurteile soll Horst Neubauer in Serie unterschrieben haben. 96 solcher Entscheidungen verantwortete er, etliche davon am Sondergericht im heutigen Lodz. Den Polen Stefan Gaszweski ließ er nach einem „Streit mit einem Volksdeutschen“ wegen Landfriedensbruchs hinrichten, ebenso wie im November 1942 die Polin Anna Rajs wegen Diebstahls.

Das geht aus einer im Mai 1957 in der DDR veröffentlichten Broschüre hervor, die sich neben anderen Biografien NS-belasteter Richter in einem neuen Buch über die dunklen Jahre der NRW-Sozialgerichte nachlesen lässt. Die Forscher sind überzeugt: In den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg arbeitete eine überraschend hohe Zahl NS-belasteter Richter in der nordrhein-westfälischen Sozialjustiz. Und Neubauer ist ein populärer Fall: Trotz Dutzender unterzeichneter Todesurteile war er nach dem Krieg Senatspräsident am NRW-Landessozialgericht in Essen.

Marc von Miquel, Leiter der Dokumentations- und Forschungsstelle der Sozialversicherungsträger („sv:dok“) und Mit-Autor des neuen Buchs „Sozialgerichtsbarkeit und NS-Vergangenheit“, geht für die ersten Jahrzehnte nach 1945 von 29 Richtern an NRW-Sozialgerichten aus, die „in Unrechtskomplexe des ,Dritten Reichs‘ involviert waren“.

Ausgewertet hat von Miquel Personalakten und andere Quellen zu 169 Juristen. Die Zahl der Richter mit belegbarer Nazi-Vergangenheit sei mit 29 „weitaus höher, als dies angesichts des Forschungsstands zur NS-Belastung in der westdeutschen Justiz zu erwarten stand“. Nicht alle waren nach den Recherchen der Historiker und Juristen glühende Nazis. Dennoch unterschrieben viele die Todesurteile wegen kleiner Vergehen. Dazu gehörte laut Studie auch der beruflich ambitionierte Mitläufer Herbert Maximilian Kieler. Er setzte 1943 in Kattowitz als Beisitzer seine Unterschrift unter mehrere Todesurteile, unter anderem gegen den Müllergesellen Robert Schwider, der größere Mengen Mehl an Juden verkauft hatte.

In Münster arbeitete Kieler nach dem Krieg als Sozialrichter. Vor zwei Entnazifizierungs-Ausschüssen berief er sich auf Erinnerungslücken. Er erhielt den Status „entlastet“. Maximilian Kieler profitierte damals von Verdrängung und schlechter Quellenlage, von Standessolidarität und mangelnder Sensibilität. Gabriele Hommel von der sv:dok zeigt ferner, dass die erst 1954 gegründeten Sozialgerichte Zehntausende aufgelaufene Streitfälle abarbeiten mussten. Trotz großer Personalnot. Und schlaue Karrieristen wie Kieler machten es leicht, nicht so genau hinzuschauen.

Auftrag zur Forschung

Den Auftrag für die Forschung der „sv:dok“ hat 2011 NRW-Justizminister Thomas Kutschaty (SPD) gegeben. Die Lektüre ergebe das Bild einer Justiz nach 1945, „der die Distanzierung von der NS-Vergangenheit erkennbar von außen aufgezwungen wurde und die auf eine weitgehende Reintegration auch schwer belasteter Juristen drängte“, schreibt er im Vorwort. „Das Buch zeugt auch von einer Rechtsprechung in der jungen Bundesrepublik, die das NS-Unrecht bagatellisierte und die in einem bisher kaum bekannten Maße Kriegsopfer von Leistungen ausschloss“.

„Das Buch zeugt auch von einer Rechtsprechung in der jungen Bundesrepublik, die das NS-Unrecht bagatellisierte.“

Thomas Kutschaty (SPD),

NRW-Justizminister

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