Titel für Beitrag eingeben„An das Grauen will ich nicht mehr denken“

Di, 24. Dez. 2013
Aachener Nachrichten – Stadt / Lokales / Seite 19

„An das Grauen will ich nicht mehr denken“

Die Künstlerin Gitta Haller erinnert sich an Weihnachten 1945. Aus Lager in den Niederlanden entlassen. Mutter überlebte es nicht.

Von Werner Czempas

Aachen. Wie festlich war Weihnachten nach dem Krieg? Künstlerin Gitta Haller (85) erinnert sich.

Weihnachten nach dem Krieg, das sind für mich ganz schreckliche Erinnerungen. Noch heute überkommt es mich, ich mag da nicht dran rühren, ich kann da nicht dran rühren, nein, nein.

Wir waren zweimal ausgebombt in Aachen. Es hatte uns in den Nordkreis verschlagen, in die Nähe von Geilenkirchen. Als die Alliierten in den Ort einrückten, wurden wir von denen über die Grenze ins Holländische transportiert, in ein Lager, das war ein früheres deutsches KZ. Grauenhaft. Ich war 17.

Die haben uns aus dem Lager nicht alle zusammen nach Hause entlassen. Wir kamen einzeln. Meine Mutter ist im Lager umgekommen. Ich kam 1945 zurück, zwei Monate vor Weihnachten. Man hatte uns eine Wohnung zugewiesen in der Lochnerstraße.

Nein, an Weihnachten 1945 war für mich nichts schön. Doch, vielleicht eines: Ich erinnere mich an ein Erlebnis im Dom. Es gab ein Hochamt, da war ganz Aachen. Menschenmengen, Menschen über Menschen. Ich hatte Schuhe meiner Mutter an, die waren mir viel zu klein. Mir taten die Füße höllisch weh. Dicht gedrängt in der Menge, bücken konnte ich mich nicht, fummelte ich mir mit dem einen Schuh den anderen vom Fuß. Mit bloßem Fuß stand ich auf dem nackten Boden – ein Wohlgefühl, das tat unheimlich gut. Als das Hochamt zu Ende war, stocherte ich mit meinem Fuß nach meinem Schuh. Aber da war nirgendwo ein Schuh. Nichts, nirgends. Ich bin furchtbar erschrocken, so ein Schuh war ein Vermögen wert. In meiner Angst bin ich wie zur Salzsäule erstarrt stehengeblieben, als die Menschen aus dem Dom strömten. Als die meisten raus waren, habe ich gesucht. Gesucht und gesucht. Unter einem Weihwasserbecken, weit weg von meinem Platz, habe ich meinen Schuh gefunden. Das war mein schönstes Weihnachtsgeschenk.

Aber an das andere, das Grauen, will ich nicht mehr denken. Ich mag nicht mehr dran rühren. Es macht mich krank. Es geht nicht. Tut mir leid.

„An Weihnachten 1945 war für mich nichts schön.“

Gitta Haller (85)

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