„Verschwörungstheorien waren lange Zeit normal“

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„Verschwörungstheorien waren lange Zeit normal“
Der Glaube an allmächtige Verschwörer war früher weit verbreitet, sagt der Amerikanist Michael Butter . Heute verstärkt das Internet die Aufmerksamkeit.

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17.04.2018

„Verschwörungstheorien waren lange Zeit normal“

Der Glaube an allmächtige Verschwörer war früher weit verbreitet, sagt der Amerikanist Michael Butter . Heute verstärkt das Internet die Aufmerksamkeit.

Aachen.Michael Butter ist im Moment das Feindbild Nummer eins für alle Verschwörungstheoretiker. Er hat dieser Tage sein von der Kritik gefeiertes Buch „Nichts ist, wie es scheint“ vorgelegt, in dem er die Mechanismen und Charakteristika von Verschwörungstheorien analysiert und erklärt, wer für solche Ideen anfällig ist. Außerdem erläutert er im Gespräch mit Amien Idries den Unterschied von realen Verschwörungen und allumfassenden Verschwörungstheorien.

Warum wird der Begriff Verschwörungstheorie so negativ verstanden? Eigentlich weist er doch nur darauf hin, dass es eine Theorie zu einer Verschwörung gibt.

Butter: Der Begriff hat sich im öffentlichen Diskurs zu einem Schimpfwort entwickelt. Ähnlich übrigens wie das Wort Populist, das erst mal eine neutrale Beschreibung eines Politikstils ist, inzwischen aber moralisch abwertend genutzt wird. Im täglichen Gebrauch ist der Begriff nicht mehr neutral, weswegen sich Verschwörungstheoretiker extrem gegen ihn wehren.

Und was zeichnet einen Verschwörungstheoretiker aus? Sie würden doch nicht jeden, der skeptisch gegenüber Regierenden, Journalisten oder Wissenschaftlern ist dazu zählen – oder?

Butter: Auf keinen Fall. Ein gesunder Skeptizismus ist positiv und notwendig für eine funktionierende Demokratie. Aber gesunder Skeptizismus und der Glaube an Verschwörungstheorien unterscheiden sich. Es gibt drei Prämissen, mit denen man die Grundhaltung eines Verschwörungstheoretikers charakterisieren kann: Nichts ist, wie es scheint! Nichts geschieht durch Zufall! Alles ist miteinander verbunden!

„Je mehr verschiedene Verschwörungsansätze sie in ihr Video packen, desto größer ist die potenzielle Kundschaft.“

Michael Butter über die kommerzielle Logik vieler Videos zu Verschwörungstheorien

Das heißt, eine einfache Art, so ziemlich alles zu erklären.

Butter: Verschwörungstheorien haben einen allumfassenden Anspruch. Sie bringen alles unter einen Hut, indem sie Chaos, Zufall und nichtgewollte Folgen menschlichen Handelns ausblenden und alles auf Intentionen und Aktionen von Menschen zurückführen. So konstruieren sie Zusammenhänge zwischen Ereignissen und Phänomenen, die sich Nicht-Verschwörungstheoretikern nicht erschließen.

Verschwörungstheoretiker argumentieren, dass bereits viele Verschwörungen aufgedeckt wurden. Dass also das, weswegen sie heute kritisiert werden, in 20 Jahren allgemein akzeptierte Wahrheit sein könnte. So wie bei Watergate.

Butter: Es hat immer Verschwörungen gegeben, und es wird sie immer geben. Wir reden hier aber von den eben beschriebenen, allumfassenden Verschwörungstheorien. Da gibt es keine, die sich irgendwann als wahr herausgestellt hätte. Watergate war zweifelsohne eine Verschwörung. Es hat aber vor der Aufdeckung des Skandals mitnichten große Theorien in diese Richtung gegeben.

Wie kann man Verschwörungen der Marke Watergate und solche, denen Verschwörungstheorien zugrunde liegen, auseinanderhalten?

Butter: Sie unterscheiden sich in Umfang und Reichweite. An realen Verschwörungen sind meist nur wenige Menschen beteiligt, und es geht oft um konkrete Aktionen. Also beispielsweise einen Staatsstreich oder ein Attentat. Verschwörungstheorien gehen hingegen meist davon aus, dass Ereignisse wahnsinnig groß sind – wie etwa die unterstellte Inszenierung der Anschläge vom 11. September. Oder, dass über Jahre oder Jahrzehnte hinweg die ganze Welt im Geheimen regiert wird. Wie schwierig so etwas ist, zeigt etwa der Sturz des iranischen Premierministers Mohammed Mossadegh durch britische und amerikanische Geheimdienste 1953. Durch diese Verschwörung wollten die USA und Großbritannien offensichtlich Einfluss auf den Iran nehmen. Ihr Ziel war aber bestimmt nicht, die islamische Revolution dort auszulösen, die mit Sicherheit eine Langfristfolge des Sturzes war. Dieses Beispiel zeigt, dass Verschwörungen den Verschwörern enteilen, weil sich Geschichte nicht über einen längeren Zeitraum manipulieren lässt.

Wie ticken Menschen, die Verschwörungstheorien anhängen? Sind sie paranoid?

Butter: Man muss sich vor Augen halten, dass in den USA je nach Studie mehr als 50 Prozent der Bevölkerung an mindestens eine Verschwörungstheorie glauben. Wenn wir die alle paranoid nennen, dann ist paranoid das neue Normal. Dann hat der Begriff keine Bedeutung mehr.

Gibt es einen besonderen Typus?

Butter: Verschwörungstheorien gibt es in allen Bevölkerungsgruppen. Das ist zunächst mal unabhängig von Alter, Ethnie, Religion oder Geschlecht. Es gibt aber gewisse Grundmuster. Demnach scheinen besonders diejenigen für Verschwörungstheorien empfänglich zu sein, die das Gefühl haben, dass ihnen die Felle davonschwimmen. Die sich in irgendeiner Form marginalisiert fühlen. Das sind diejenigen, die auch die Trägerschichten der großen populistischen Bewegungen der westlichen Welt sind. Ganz pauschal und verknappt gesagt: ältere, wütende, weiße Männer.

In Deutschland spricht man häufig von Modernisierungsverlierern. Ist das alles auch eine Reaktion auf die zumindest gefühlt immer komplexer werdende Welt?

Butter: Für die eben angesprochene Gruppe ist eher das Gefühl der Veränderung maßgeblich. Diese Menschen fühlen sich von den Veränderungen ökonomisch und kulturell bedroht. Nicht mehr jeder heißt Maier oder Müller. Nicht mehr jeder spricht fließend Deutsch. Nicht mehr jeder ist heterosexuell und lebt in einer klassischen Familie. Wichtig dabei ist, dass es um ein Gefühl geht, weniger um harte Fakten. Auf diesem Gefühl gedeihen Populismus und Verschwörungstheorien.

Sie arbeiten in Ihrem Buch die Unterschiede und Schnittmengen zwischen Populismus und Verschwörungstheorien heraus. Wählen Verschwörungstheoretiker vermehrt AfD?

Butter: Nicht jeder Verschwörungstheoretiker wählt AfD, aber viele dürften eine deutlich größere Affinität zu ihr als zu anderen Parteien haben. Wer heutzutage an Verschwörungstheorien glaubt, richtet sich gegen das Establishment und die Eliten. Als Konsequenz wählt er entweder gar nicht oder eine Partei, die sich als Alternative zu den etablierten Parteien inszeniert. Dann sind wir natürlich sofort bei der AfD.

Aber inzwischen ist die AfD als in den Bundestag gewählte Partei Teil des Systems.

Butter: Die AfD ist zwar in den Parlamenten und damit in der politischen Elite angekommen. Es wird ihr aber weiterhin gelingen, sich als Anti-Establishment-Partei zu inszenieren. Als Opfer, die verzweifelt gegen das System, die „Volksverräter“ und die Verschwörer ankämpfen. Selbst Donald Trump spielt diese Karte immer wieder: Er sitze zwar im Weißen Haus, sei aber von Verschwörern umzingelt.

Sie bezeichnen in Ihrem Buch die Verschwörungstheorie als eine Art Ersatzreligion.

Butter: Verschwörungstheorien müssen Religion nicht ersetzen, weil sie durchaus kompatibel mit ihr sein können. Geschichtlich betrachtet sind sie aber durchaus an die Stelle religiöser Weltmuster getreten. Das lässt sich vor allem während der Säkularisierung im 18. Jahrhundert beobachten. Verschwörungstheorien transferierten eine aus der Mode gekommene, religiöse Erzählung in eine säkulare Form: die Idee, dass es einen göttlichen Heils- und Schöpfungsplan gibt. Dass die Geschichte einen Sinn hat und auf einen Endpunkt zuläuft. Alles bleibt geplant, und Zufall und Chaos werden aus der Welterklärung eliminiert. Aus dem allmächtigen Gott wird der allmächtige Verschwörer, der die menschlichen Geschicke lenkt.

Wir Journalisten haben mitunter Kontakt zu Menschen, die uns vorwerfen, wir würden von Frau Merkel, Geheimdiensten oder den Illuminaten kontrolliert. Wieso nimmt ein Verschwörungstheoretiker Kontakt zu jemandem auf, den er als Teil der Verschwörung sieht? Das ist doch vergebene Liebesmüh.

Butter: Es gibt bei Verschwörungstheorien gewisse Paradoxien. Einerseits das Gefühl, dass die Verschwörer die vollkommene Macht haben und sowieso alles geplant haben, andererseits den Fakt, dass sie offensichtlich nicht mächtig genug sind, um die vermeintlichen Verschwörungsaufdecker zum Schweigen zu bringen. Eine andere Paradoxie ist das ständige Schwanken zwischen Pessimismus und Optimismus. Aus ihrer Sicht ist es immer fünf vor zwölf, aber nie zu spät. Eigentlich droht die Apokalypse, aber wenn man die Verschwörer entlarvt und besiegt, wartet das gelobte Land.

Gibt es bei Verschwörungstheoretikern ein Gefühl des Auserwähltseins, weil sie zu denen gehören, die die Verschwörung entlarven?

Butter: In der heutigen Zeit, in der Verschwörungstheorien kein normales, sondern stigmatisiertes Wissen sind, ist das durchaus so. Man kann sich als derjenige gerieren, der weiß, wie die Welt funktioniert, während andere – die sogenannten Schlafschafe – blind den Zeitläufen ausgesetzt sind.

Inwiefern waren Verschwörungstheorien früher normales Wissen?

Butter: Es war lange Zeit völlig normal, an Verschwörungstheorien zu glauben. Sie waren kein Thema von Randgruppen der Gesellschaft, sondern wurden von Politikern, Medien und Wissenschaft verbreitet. Jeder amerikanische Präsident von Washington bis Eisenhower war im Prinzip ein Verschwörungstheoretiker.

Zum Beispiel?

Butter: George Washington war wie alle Gründerväter davon überzeugt, dass es eine große, perfide Verschwörung der englischen Krone gegen die Kolonisten gab. Das hat dazu beigetragen, die amerikanische Revolution auszulösen. Abraham Lincoln war der Meinung, dass es eine großangelegte Verschwörung der Sklavenhalter gibt, um die Sklaverei sogar auf die weiße Arbeiterschaft auszuweiten. Und Dwight D. Eisenhower war wie praktisch jeder US-Politiker der 1950er Jahre davon überzeugt, dass es eine großangelegte kommunistische Subversion gibt, die alle amerikanischen Institutionen unterläuft. Das war völlig normal, weil man dachte, die Welt funktioniere so. Ab den späten 1950er Jahren verliert diese Weltsicht allerdings an Rückhalt.

Warum?

Butter: Es entwickelte sich das Bewusstsein, dass Verschwörungstheorien extrem gefährlich sein können. Hier muss man den Holocaust nennen, dem die Vorstellung einer jüdischen Weltverschwörung den Boden bereitet hat. Aber auch die zunehmende Akzeptanz von sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen darüber, wie soziale Systeme, wie Interaktion funktionieren, führte dazu, dass Verschwörungstheorien zwar nicht weg, aber gesellschaftlich nicht mehr akzeptiert waren.

Die Bedeutung von Verschwörungstheorien hat also abgenommen?

Butter: Sie sind heute auf jeden Fall viel weniger einflussreich, als sie das vor 100 oder 200 Jahren waren.

Dennoch rufen sie durch das Netz enorme Aufmerksamkeit hervor. Bereits kurz nachdem die Behörden den Täter der Amokfahrt in Münster identifiziert hatten, gab es im Internet Theorien, dass die wahre Täter-Identität geheim gehalten werde.

Butter: Das Internet macht die Verbreitung solcher Ideen natürlich viel einfacher. Was früher nur am Stammtisch eine Rolle gespielt hat, kann nun zumindest potenziell ein großes Publikum erreichen. Wir erleben inzwischen bei allen Anschlägen, dass sehr kurz danach Videos verbreitet werden, in denen Verschwörungsgerüchte verbreitet werden. Es wird auf mutmaßliche Ungereimtheiten, Geheimhaltung oder falsche Identitäten verwiesen. Dabei werden häufig viele verschiedene verschwörungstheoretische Stereotype miteinander verknüpft. Das liegt an der kommerziellen Logik, weil viele Menschen mit Verschwörungstheorien schlicht Geld verdienen und einen Markt bedienen. Je mehr verschiedene Verschwörungsansätze sie in ihr Video packen, desto größer ist die potenzielle Kundschaft. Ein 40-minütiges Video mit nur einem Ansatz erhält auf Youtube deutlich weniger Klicks als ein fünfminütiges, in denen alle üblichen Verdächtigen genannt werden.

Das Problematische an Verschwörungstheoretikern ist, dass man kaum mit ihnen diskutieren kann. Jeder Beleg gegen ihre Sicht wird als Teil einer Verschleierungstaktik der Mächtigen entkräftet. Wie diskutiert man mit solchen Menschen?

Butter: Das ist ganz schwierig. Wir wissen aus Studien, dass Verschwörungstheoretiker, nachdem man sie mit schlüssigen Gegenbeweisen konfrontiert hat, noch stärker an ihre Ideen glauben. Das liegt daran, dass man ihre Identität so stark infrage stellt. Es gibt keine erfolgversprechende Diskussionsstrategie. Wichtig ist meines Erachtens, dass man die Kommunikation aufrechterhält und nicht gleich mit der großen Keule Verschwörungstheorie zuschlägt.

Wie sieht es mit Medienkompetenz aus? Verschwörungstheoretiker sind mit Blick auf klassische Medien stets sehr skeptisch. Gegenüber anderen Quellen jedoch nicht.

Butter: Quellenkritik ist eine wichtige Kompetenz, um gegen Verschwörungstheorien gewappnet zu sein. Dazu gehört beispielsweise, nicht nur nach den Interessen von ARD und ZDF zu fragen, sondern auch nach denen von RT Deutsch oder Sputniknews.com.

Welche Rolle spielen die klassischen Medien?

Butter: Sie tun sich mit den durch das Netz veränderten Rahmenbedingungen durchaus schwer. Die mediale Geschwindigkeit hat sich erhöht, was zu Ungenauigkeiten und Schnellschüssen führt. Allerdings fehlt Verschwörungstheoretikern vielfach ein differenzierter Blick auf die Medienlandschaft. Sie nehmen nicht wahr, dass es unterschiedliche Position auch bei den etablierten Medien gibt. Wir müssen akzeptieren, dass es Verschwörungstheoretiker gibt, die man nicht zurückgewinnen wird. Ein eingefleischter Putin-Fan wird sich durch keinen noch so schlagkräftigen Beweis von einer russischen Verantwortung im Skripal-Fall überzeugen lassen.

Keine Hoffnung?

Butter: Es gibt offensichtlich Wahrnehmungsprobleme, denen man nicht beikommt. Unter Artikeln von mir stehen Kommentare wie dieser: „Der Buttler ist ja Amerikaner, der muss das natürlich sagen.“ (Anm. d. Red.: Michael Butter heißt weder Buttler noch ist er Amerikaner. Er ist deutscher Professor für Amerikanistik). Wer nicht in der Lage ist, solche recht simplen Informationen zu verarbeiten, bei dem muss man wohl zwangsläufig mit einer komplizierteren Argumentation zu Verschwörungstheorien scheitern.

Haben Sie eine Lieblingsverschwörungstheorie?

Butter: Definitiv die zur erfundenen Mondlandung. Weil sie relativ harmlos ist und sie die erste Verschwörungstheorie war, die mir begegnet ist. Ich fand sie übrigens zu Beginn recht überzeugend, bis ich mit den sehr viel schlüssigeren Gegenbeweisen konfrontiert wurde. Völlig immun ist also niemand gegen Verschwörungstheorien. (lacht)

„Womöglich das Buch des Jahrzehnts“

Michael Butter (Foto: imago/Reiner Zensen) ist Professor für Amerikanistik an der Universität Tübingen. Der 40-Jährige hat in Freiburg und Bonn studiert und leitet ein europäisches Forschungsprojekt zu Verschwörungstheorien. Sein Buch „Nichts ist, wie es scheint. Über Verschwörungstheorien“ ist dieser Tage im Suhrkamp-Verlag erschienen (ISBN: 978-3-518-07360-5, 271 S., 18 Euro). „Die Zeit“ bezeichnet es als „das erste gute Buch über Verschwörungstheorien“, die „Welt am Sonntag“ schreibt: „Womöglich ist es das Buch des Jahrzehnts.“

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