Mi, 20. Aug. 2014
Aachener Nachrichten – Stadt / Blickpunkt / Seite 2
„Wohin sollen wir denn gehen?“
Zwischen Geröll und Schutt sind die Bewohner von Gaza auf der Suche nach so etwas wie Alltag. Nach den israelischen Bombenangriffen gelten 75 000 Menschen als obdachlos. Eine Alternative haben sie nicht.
Von Andrea Krogmann
Gaza. Mehr als einen Monat dauerten die Kämpfe. An diesem Dienstag herrscht für ein paar Stunden Waffenruhe, und Gaza versucht, kurzfristig so etwas wie Normalität zurückzugewinnen. An eine langfristige Lösung des Konflikts glaubt hier kaum noch jemand. Die Atempause wird genutzt, um sich für den Fall einer Wiederaufnahme der Kampfhandlungen mit dem Nötigsten zu versorgen. Schon vor dem Krieg waren 80 Prozent der Bewohner von Gaza auf Hilfe angewiesen, sagt die Hilfsorganisation Oxfam. Der „Catholic Relief Service“ (CRS) spricht nun von einem Katastrophenfall.
Es ist ruhig in der katholischen Holy-Family-Schule. Ein Arzt aus dem Caritas-Team hat gerade seine Visite abgeschlossen. Ein Junge schleift, seine eigenen Füße in viel zu großen Latschen, ein Bündel Schuhe hinter sich her. Ein Mädchen zieht mit einem Wischer eine braune Wasserlache von einem Flur im ersten Stock. Es riecht nach Chlor und nach zu vielen Menschen auf zu engem Raum, auch wenn an diesem Nachmittag nur ein paar vereinzelte Frauen in der Notunterkunft geblieben sind.
„Viele sind zu ihren Häusern zurückgegangen, um zu sehen, ob es etwas zu retten gibt“, sagt Caritas-Mitarbeiter Issa. Wer es sich leisten kann, ist auf dem Markt, einkaufen. Am Abend werden sie wiederkommen. Dann wird es wieder voll werden in den Klassenzimmern. Eigentlich soll in zwei Wochen die Schule wieder losgehen. „Wohin sollen wir dann gehen?“, fragt Abu Nasim verzweifelt und zeigt seinen Gipsarm – Raketensplitter von dem Angriff, der sein Haus in Schutt und Asche gelegt hat.
Schätzungen zufolge wurden rund 10 000 Häuser vollständig und weitere 20 000 teilweise zerstört. Mitarbeiter des CRS gehen von 75 000 Obdachlosen und einer halben Million Binnenflüchtlingen aus. Viele kamen mit nichts als ihren Kleidern am Leib. Wie die 32 Familienmitglieder von Abu Nasim, die unter einem Wellblechdach im Hof einer der Jungenschule der Vereinten Nationen Zuflucht gefunden haben.
„Herzlich willkommen unseren Gästen“ steht am Eingangstor der benachbarten Mädchenschule. „Gäste“ haben sie und die 80 weiteren UN-Schulen derzeit viele – offiziell genau 225 831. Zu den jüngsten gehört Bisan: einen Monat alt, geboren am ersten Kriegstag, in einem Klassenzimmer in Gaza, inmitten von 45 Familienmitgliedern. Mit Decken und Tüchern hat Bisans Familie den engen Raum in Miniparzellen unterteilt – für etwas mehr Privatsphäre. Die Männer schlafen ohnehin draußen, auf dem Flur.
Ein paar Meter weiter liegen Mohammed und Qassam auf einer dünnen Matratze auf dem Fußboden eines anderen Klassenzimmers. Keine drei Wochen alt sind die Zwillinge; sie teilen sich 20 Quadratmeter mit 30 Familienmitgliedern. 344 Kinder sind nach UN-Angaben seit Kriegsbeginn in den 81 Schulen zur Welt bekommen, geboren als Flüchtlinge im eigenen Land und im Zeichen des Krieges. Eine weitere Generation, die im Rhythmus des israelisch-palästinensischen Konflikts aufwachsen wird.
„Ich habe eine dreijährige Tochter. Sie hat in ihrem Leben zwei Kriege erlebt. Warum? Warum?“ Der Katholik George wiederholt seine Frage; eine Antwort erwartet er nicht. „Solange es hier radikale Elemente gibt, werden wir nie echte Freunde haben. Wer an Blut glaubt, wird Blut ernten!“
„Seht hin, was Israel uns angetan hat!“ Laut anklagend wie Umm Achmed im fast völlig zerstörten Huza‘a im Südosten des Gazastreifens oder auch wortlos angesichts der Katastrophe stehen die Menschen in den Trümmern ihrer Häuser. Längst äußern sie hinter vorgehaltener Hand auch Kritik an der Hamas. Sie habe den Krieg auf Kosten der eigenen Bevölkerung geführt. Nicht nur Israel, auch die Hamas habe von dem Krieg profitiert, lauten die stillen Anklagen.
Am wichtigsten aber ist gegenwärtig die humanitäre Hilfe, sagen die Helfer vor Ort. Über den Wiederaufbau, sagen sie, könne man erst sprechen, wenn es eine dauerhafte Lösung gebe, in der Hoffnung, dass dies der letzte Wiederaufbau Gazas sein wird. Dass „all das Töten und all das Leid nicht völlig sinnlos waren“. (kna)
Friedensgespräche in Kairo abgebrochen
Nach dem Bruch der jüngsten Waffenruhe droht der Gaza-Konflikt wieder zu eskalieren. Israel zog nach Raketenangriffen aus dem Gazastreifen seine Verhandlungsdelegation aus Kairo ab. Dort sollte sechs Wochen nach Beginn des Gaza-Kriegs eine dauerhafte Friedenslösung zwischen Israel und den Palästinensern gefunden werden. Drei Geschosse seien in der Nähe der Wüstenstadt Beerscheva eingeschlagen, sagte eine Militärsprecherin. (dpa)
„Ich habe eine dreijährige Tochter. Sie hat in ihrem Leben zwei Kriege erlebt. Warum? Warum?“
Der Katholik George klagt an