Ein Priester ganz ohne die Liturgie des Üblichen

Mo, 28. Okt. 2013
Aachener Nachrichten – Stadt / Spezial / Seite 8

Ein Priester ganz ohne die Liturgie des Üblichen

Der Ehrenvorsitzende des Sozialwerks Aachener Christen, Toni Jansen, freut sich über sein Lebenswerk und kann nach positiverer Diagnose das Hospiz verlassen.

Von Bernd Mathieu

Aachen. Es ist einer jener sonnigen, hellen, freundlichen Vormittage, mit denen uns dieser Oktober beschenkt hat. Ein Besuch im Hospiz Haus Hörn. Ein Besuch bei einem katholischen Priester, der über Jahrzehnte diese Stadt bereichert hat. Bereichert in seiner zurückhaltenden, aufmerksamen und zugewandten Art.

Sein Leben ist geprägt vom Kampf für Gerechtigkeit, aber das Wort „Kampf“ klingt für diesen feinsinnigen Menschen natürlich übertrieben martialisch. Und doch war es so, so nachhaltig, so hartnäckig, so zielstrebig, ja: manchmal so kompromisslos – nicht für sich, für andere.

Dieses Leben ist gekennzeichnet von Anstrengung und Überzeugungskraft, von Respekt vor der Arbeit und von der frühen Erkenntnis, dass man schon sagen soll, was man will. Das tut er als Neunjähriger in Eilendorf, das damals noch lange nicht zur Stadt Aachen gehört, eine historische Reminiszenz, die er auch an diesem Vormittag eigens betont. Der Mann ist vom Dorf und doch nie ein Provinzler gewesen.

Der Neunjährige

Als kleiner Steppke hat er seinen Eltern gesagt, dass er unbedingt aufs Gymnasium wolle. Wohl wissend, zumindest irgendwie ahnend, dass dies für seine Eltern nicht einfach werden würde, die Mutter Stöpferin, der Vater Maschinenschlosser. Aufs Gymnasium? Da haben die Eltern gesagt, sie könnten es nicht bezahlen. Und dann blitzten die Entscheidungsfreude, die Entschlusskraft, das Wahrnehmen einer letzten Chance auf: Da gestand der Neunjährige seiner Mutter, dass er Priester werden wolle.

Heute würde man tiefenpsychologisch korrekt von der demokratischen Dynamik des Familienrats sprechen. Kurzum: Der Vater fragte die vier Geschwister des jungen Priesteramtskandidaten, ob sie damit einverstanden seien, dass Anton das Kaiser-Karls-Gymnasium besuchen dürfe. Sie, teilweise noch jünger als der Neunjährige, stimmten nach Diskussion zu. Anton, mit seiner Großmutter in aller Herrgotts Frühe stets zur Messe gegangen, hatte es geschafft.

Toni Jansen, so nennen alle später den Erwachsenen, lebt heute in einem kleinen Zimmer im Erdgeschoss des Hospizes. Ja, er lebt! Vor einem halben Jahr musste er, mussten alle, die ihn schätzen, lieben und mögen, befürchten, dass er nur noch eine kurze Zeit im Diesseits der Welt verbringen dürfe. Die ärztliche Diagnose klang klar und schonungslos brutal, sie kam ohne jede Hoffnung daher und ohne irgendeine Alternative zu bieten: unheilbarer Krebs, äußerst geringe Lebenserwartung, fast in Wochen zu zählen.

Ein verantwortungsbewusster Mensch mit 78 Jahren weiß, was er dann zu tun hat. Er ordnet sein Leben für die ihn Überlebenden. Er klärt, was zu klären ist. Toni Jansen gibt seine Wohnung auf, löst seinen Hausstand auf, meißelt unwiderruflich diese Zäsur in den vermeintlich letzten Meilenstein seines Lebens und zieht in das Hospiz – zum Sterben. „Ich hatte mich innerlich darauf eingelassen: Wenn es so ist, dann ist das so, dann stirbst du in diesem Hospiz.“

Abschied. Letzte Worte.

Viele Freunde und Wegbegleiter, manchmal sind es bis zu 15 an einem Tag, besuchen ihn, und für manchen ist es ganz eindeutig: Abschied. Letzte Worte. Letzte Gedanken. Letzte Gesten. Vielleicht auch: erste Tränen.

Toni Jansen spricht darüber nicht viel, und ich frage ihn auch nicht danach. Zumal: Das Blatt hat sich gewendet, es ist noch einmal ein neues Kapitel aufgeschlagen worden. Sechs Monate wohnt er nun hier im Hospiz, sechs lange Monate mit der „Gewissheit“, dass dies seine letzte Station sei. Aber sie ist es nicht; denn plötzlich klingt die Diagnose positiver. Es sei möglicherweise kein bösartiger, sondern ein gutartiger Tumor, heißt es nun. Auch darüber wollen wir nicht ins Detail gehen an diesem Vormittag.

Toni Jansen spricht darüber ohne Bitterkeit. In seinen Worten spürt man eher eine Mischung aus Hoffnung, Zuversicht und Ungewissheit darüber, was nun kommen mag. Bald wird er ins Altenheim nach Laurensberg ziehen, er, der krank ist, aber offensichtlich nicht ganz so dramatisch, wie wir und er selber ein halbes Jahr glaubten, und fast scheint es so, als gewinne er nach dieser Karenzzeit Tag für Tag ein gutes Stück seiner Vitalität scheibchenweise so zurück, wie er sie in der jüngsten Vergangenheit verloren hat.

Ein halbes Jahr im Hospiz, ein halbes Jahr mit dieser Diagnose der schon mehr als nur mit einem Bein in den Raum eingetretenen Endlichkeit, die sich jetzt als halbjähriges Provisorium darstellen könnte. Nein: Es war mehr als ein Provisorium, allenfalls ein räumliches, aber kein menschliches; denn die Krankenbesuche waren für ihn, das merkt man an seiner dankbar-fröhlichen Rhetorik, wohl nie eine Pflichtübung, sondern ernst gemeinte Zeichen von Freundschaft, Solidarität und Fürsorge.

Er mischt sich ein

Toni Jansen fasst das in dem schönen Satz zusammen: „Ich mag die Menschen.“ Und er habe sich jedes Mal gefreut, wenn jemand gekommen sei. „Je älter ich werde und mich mit Menschen unterhalte, zum Beispiel darüber, was sie tun, was sie als wichtig erkannt haben, desto mehr mag ich sie.“ Je älter er werde, um so mehr wachse das Interesse an den Menschen. „Früher war ich relativ schüchtern, ein zurückhaltender Mensch, ja ehrlich: viel schüchterner als jetzt.“

Ein schüchterner Priester war er nicht wirklich. Wer ihn predigen hörte, weiß, dass er sich einmischt in diese irdische Welt. Und er bestätigt das heute ausdrücklich. „Ich habe immer gerne gepredigt. Mich hat dabei die Frage beschäftigt, was die Leute bewegt in ihrem Leben, in ihrem Alltag. Das war mir wichtiger, als noch mal das Evangelium von vorne zu erzählen.“

Das soziale Element hat ihn interessiert und motiviert. Er wusste, dass im Weinberg Gottes hart gearbeitet wird. Er wusste es von seinen Eltern, und er sah es, wenn er genau hinschaute. Das war ihm angeboren, anerzogen, und das hat ihn während seines fünfjährigen Theologie-Studiums bei den Jesuiten in Frankfurt/Main geprägt – für ein langes Leben.

Stationen: Priesterseminar in Aachen, Kaplan in Krefeld, Abteilungsleiter für Gemeindearbeit im Generalvikariat, Pastor an St. Peter in Aachen. Da war er Mitte 30 und hatte schon jenen Elan, der über die Jahrzehnte sein zuverlässiger und guter Wegbegleiter geblieben ist. Er kannte die Probleme der Arbeiter, die Würde der Arbeit und den Respekt davor musste ihm niemand erklären. Er erinnerte sich an die Freitagnachmittage, an denen sein Vater die Lohntüte mit nach Hause brachte (Toni Jansen sagt: „abgab“.) „Erst nach 60 Wochenstunden Arbeit, später nach 48, schließlich nach 42.“

Arbeitskampf: Das war kein Fremdwort in der Eilendorfer Familie. Und auch für die Bibel nicht, in der es – im Klartext – heißt: „Ein Arbeiter ist seines Lohnes wert.“ (Luk. 10,7)

Kurzum: Toni Jansen ergriff, mit Hilfe von ganz wenigen anderen, die Initiative und gründete 1982 das Sozialwerk Aachener Christen. Die Jugendarbeitslosigkeit in der Stadt, die Langzeitarbeitslosen, Familienväter und Alleinerziehende ohne Job: Er traute der Liturgie des Üblichen nicht, da war Kirche gefragt nach Art von Toni Jansen: „Keine kirchliche Institution mit dem Deckmäntelchen von Frömmigkeit, sondern ein gut organisierter Betrieb.“

Der wurde immer größer, immer interessanter und immer mehr zog er wichtige Mitstreiter an, die Toni Jansen ansprachen: Unternehmer, Einzelhändler, Anwälte, die dem Sozialwerk einen ebenso intellektuellen wie professionellen und nach wie vor praktisch orientierten Charakter gaben und geben. Die gesamte Palette kam auf das Sozialwerk zu: Mitarbeiterführung, Betriebswirtschaft, Öffentlichkeitsarbeit. „1000 Dinge waren jeden Tag zu erledigen“, sagt der Priester und Manager in seinem persönlichen Rückblick.

Er erwähnt an dieser Stelle seine Mitgliedschaft im Rotary Club Aachen, wohl wissend, dass es gegen die von außen behauptete elitäre Noblesse manchmal keine rhetorische Chance auf Gegenwehr gibt: „Ich war nie ein Rotarier der upper class, ich habe im Rotary Club zum größten Teil meine besten Freunde gefunden, und dafür bin ich sehr dankbar.“

Die seelischen Muskeln

Wir berühren manches Thema an diesem Vormittag und reden auch über Politik, die sich um Arbeitslose zu wenig kümmere. Darüber denke er oft nach, sagt er. Es stimme zwar, dass einige Arbeitslose gar nicht mehr arbeiten wollten, aber das sei die Minderheit. Und: „Bei manchen, die so lange arbeitslos sind, erschlaffen allmählich die seelischen Muskeln.“

Jetzt ist er Ehrenvorsitzender des Sozialwerks. „Es war mir wichtig, einen offiziellen Schlussstrich zu ziehen.“ Das habe er schon sehr früh geplant. „Ich wusste ja nicht, dass ich dieses Haus hier wieder verlassen würde.“ Er empfinde große Dankbarkeit für unendlich vieles, für die Mitarbeiter, den Vorstand, den Beirat, die Spender. Sie alle gemeinsam haben in zahlreichen Biografien ihnen Anvertrauter die Folgen einiger Absturzstellen mit ihrem Engagement ehrenamtlich ausgeglichen.

Durch den Papst bestätigt

Wir erwähnen Papst Franziskus, und Toni Jansen sagt, er fühle sich „spät bestätigt“ durch diesen Jesuiten aus Argentinien. An den Jesuiten fasziniere ihn die Intellektualität, bei den Jesuiten habe er gerne studiert, gerne Prüfungen gemacht, gerne gelesen. „Die führenden Jesuiten hatten immer die Gesellschaft im Blick und sahen, was da schief lief.“ Er nennt namentlich die Jesuiten Oswald von Nell-Breuning, Hermann-Josef Wallraff und Friedhelm Hengsbach.

Wir sprechen über Literatur, und dass er alle wesentlichen zeitgenössischen deutschen Schriftsteller gelesen hat, Böll, Walser, Enzensberger, Grass, auch den guten Wellershoff. Und er mag jüdische Autoren, David Grossmann und sein Buch „Eine Frau flieht vor einer Nachricht“ zum Beispiel. Wir wollen bald eine Literaturliste austauschen.

Das ist eine schöne Verabredung auf die Zukunft. Und ein gutes Gefühl.

„Keine kirchliche Institution mit dem Deckmäntelchen von Frömmigkeit.“

Toni JanseN über das Sozialwerk Aachener CHristen

„Früher war ich relativ schüchtern, ein zurückhaltender Mensch, ja ehrlich: viel schüchterner.“

Toni Jansen, sich selber beschreibend

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