Mi, 28. Aug. 2013
Aachener Nachrichten – Stadt / AN Politik / Seite 4
Hamburger Arbeitsvermittlerin kämpft gegen Hartz IV
Weil sie den Umgang mit Empfängern des Arbeitslosengeldes II kritisiert hat, wurde Inge Hannemann gekündigt. Dagegen wehrt sie sich.
Von Stephanie Lettgen
Hamburg. Als „Hartz IV-Rebellin“ sorgt Jobcenter-Mitarbeiterin Inge Hannemann für Furore. Auf ihrem Internet-Blog wettert die Hamburgerin, das „System Hartz IV“ mache krank. Die 45-Jährige will keine finanziellen Sanktionen gegen Hartz IV-Empfänger verhängen, die nicht zu Terminen erscheinen oder Jobangebote ablehnen – aus ihrer Sicht verstößt diese Vorschrift gegen die Menschenwürde. Die Quittung für ihre öffentlichen Attacken kam im April: Hannemann wurde vom Dienst freigestellt. Dagegen wehrt sie sich juristisch, heute soll vor dem Arbeitsgericht Hamburg das sogenannte Hauptsacheverfahren beginnen.
„Wie viele Tote, Geschädigte und geschändete Hartz IV-Bezieher wollen Sie noch auf ihr Konto laden?“, schrieb die im Jobcenter Hamburg-Altona tätige Hannemann Anfang des Jahres in einem auf ihrem Blog veröffentlichten Brief an die Bundesagentur für Arbeit (BA). „Angst vor Sanktionen und die Behandlung als Mensch zweiter, dritter, vierter Klasse durch die Jobcenter führen nicht in Arbeit, sondern in die totale Verweigerung.“
Sie sieht sich als Sozialarbeiterin
Derzeit äußern sich Bundesagentur, Jobcenter Altona und Hamburger Sozialbehörde nicht direkt zum Fall Hannemann – meist mit Hinweis auf das schwebende Verfahren. Im Juni jedoch hatte die Bundesagentur in einer Mitteilung Stellung genommen: „Die Behauptungen von Frau Hannemann sind falsch und führen die Öffentlichkeit in die Irre“, hieß es. Das Arbeitslosengeld II – auch Grundsicherung oder umgangssprachlich Hartz IV genannt – widerspreche nicht dem Grundgesetz. Auch würden die Mitarbeiter der Jobcenter „durch ihre tägliche engagierte Arbeit“ nicht die Würde der Kunden verletzen. Hannemann missbrauche ihre „angeblichen Insider-Ansichten, um sich in der Öffentlichkeit als einsame Kämpferin für Entrechtete darzustellen“.
Empfänger des Arbeitslosengeldes II haben nach dem Motto „Fördern und Fordern“ bestimmte Pflichten gegenüber ihrem Jobcenter – sonst drohen Abzüge. Nach Angaben des Jobcenters Hamburg müssen in der Stadt lediglich gegen knapp vier Prozent der Hartz IV-Empfänger Sanktionen verhängt werden. Hartz IV werde aus Steuermitteln finanziert, sagt in Nürnberg die Sprecherin der Bundesagentur für Arbeit, Ilona Mirtschin, zu dem umstrittenen Vorgehen, bei Versäumnissen Geld zu kürzen. „Im Gegenzug muss man natürlich auch von Hartz IV-Beziehern verlangen, dass sie alles dafür tun, Hilfsbedürftigkeit zumindest zu verringern oder ganz abzuschaffen.“
Hannemann arbeitete seit Herbst 2011 in Teilzeit im Jobcenter Hamburg-Altona, war dort zuständig für Jugendliche, deren Vermittlung als schwierig galt. Sie begriff ihren Beruf auch als Sozialarbeit. Nach eigenen Angaben machte sie mit den Jugendlichen eine Analyse ihrer Stärken und Schwächen und half ihnen, ihre „Stolpersteine“ auf dem Weg ins Arbeitsleben zu beseitigen. Man müsse sich Zeit für die Jugendlichen nehmen und dürfe mit Sanktionen keinen Druck aufbauen, ist Hannemann überzeugt.
Karl Jürgen Bieback, Professor für Sozial- und Arbeitsrecht an der Universität Hamburg, erklärt dazu: „Ich vertrete auch die Ansicht, dass die jetzige Regelung der Sanktionen nicht sinnvoll und unverhältnismäßig ist.“ Aber Hannemann müsse „das geltende Recht anwenden, das ist eine Pflicht“.
Seit Hannemann freigestellt ist, hat die Mutter einer erwachsenen Tochter jede Menge zu tun. 100 Mails pro Tag, zahlreiche Anrufe und Einladungen zu Vorträgen erreichen sie. Artikel über sich stellt sie auf ihre eigene Homepage, Zuschriften bewahrt sie auf. Die zierliche Frau mit dem dunklen Kurzhaarschnitt polarisiert: Die einen werfen ihr vor, Selbstdarstellung zu betreiben. „Es geht nur ums System und nicht um meine Person“, betont sie dagegen. Für andere ist Hannemann eine Heldin. Bürger haben sie für den Deutschen Engagementpreis 2013 des Bundesfamilienministeriums nominiert.
Der ehemalige CDU-Generalsekretär Heiner Geißler bezeichnet Hannemann als „sehr mutige Frau“. Es sei ein Glücksfall, dass endlich jemand aus dem BA-Bereich die Missstände aufdecke, die seit Existenz der „Agenda 2010“ dort eingerissen seien, erklärt der 83-Jährige. Applaus für Hannemann kommt auch von den Linken. Zu einem ersten Gerichtstermin der Jobcenter-Mitarbeiterin in der Hansestadt reiste Ende Juli extra die Parteivorsitzende Katja Kipping an.
Damals wehrte sich Hannemann in einem Eilverfahren gegen ihre Suspendierung, das Arbeitsgericht aber lehnte ihren Antrag ab. Im Hauptsacheverfahren will sie nun weiterkämpfen. „Ich mag den Job und ich bin immer noch der Meinung, dass ich wirklich das System von innen heraus reformieren kann“, sagt die 45-Jährige. Sollte sie verlieren, ist für sie klar: „Dann klage ich weiter bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.“