Hunderte von antisemitischen Straftaten

 

Mo, 12. Nov. 2012
Aachener Nachrichten – Stadt / Lokales / Seite 25

Hunderte von antisemitischen Straftaten

Allein im ersten Halbjahr 2012 und auch in Aachen verübt. Mahnwache vor der Synagoge zum Gedenken an die Pogromnacht 1938.

Von Werner Czempas

Aachen. „In Buchenwald, in Buchenwald, da machen wir die Juden kalt.” Solch unfassbar widerwärtiger Ekeldreck ist heute auf deutschen Straßen zu hören. An Abscheulichkeiten dieser Art wurde erinnert bei der alljährlichen Mahnwache vor der Aachener Synagoge zum Gedenken an die Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938.

Als in Deutschland vor 74 Jahren die jüdischen Gotteshäuser brannten, ging auch die Aachener Synagoge in Flammen auf. Der antisemitische Mob raste, legte, während Polizei und Feuerwehr tatenlos zuschauten, an der Synagoge mehrere Brandherde, zog zur Großkölnstraße und zerstörte dort die Geschäfte jüdischer Besitzer. 268 jüdische Aachener wurden verhaftet, in das Zwischenlager am Grünen Weg und von dort in die Konzentrationslager Buchenwald und Sachsenhausen deportiert.

Zur Erinnerung an die immerwährende Schande des 9. November 1938, mit der der Völkermord an Millionen Menschen in ganz Europa begann, wurde auch in diesem Jahr unter dem Motto „Aus der Geschichte lernen – Für eine Zukunft frei von Nationalismus, Rassismus, Faschismus und Krieg” wieder von der VVN-BdA (Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten) eingeladen zur „Mahnwache an diesem denkwürdigen Platz”, so Moderatorin Alexandra Simon-Tönges. Rund 80 Personen waren zum Synagogenplatz an der Promenadenstraße zur wiederum beeindruckenden Stunde gekommen, unter ihnen etliche Politiker des sozialdemokratischen und linken Spektrums und auch DGB-Chef Ralf Woelk.

„Wir erinnern heute dieser Reichspogromnacht von 1938 auch mit dem Blick auf die Gegenwart”, sagte Simon-Tönges. „Der Rechtsextremismus in Deutschland fordert uns täglich heraus. Wir müssen wachsam sein und streitbar bleiben gegenüber allen Formen von Rassismus und Antisemitismus.” Alle seien „gefragt zu handeln” und den Verursachern von alltäglichem Rassismus und Antisemitismus „besonnen und entschlossen” entgegenzutreten.

Wie erforderlich das ist, zeigt eine lange Liste „fast alltäglicher” antisemitischer Aggressionen und Gewaltdelikte aus den vergangenen beiden Jahren. Aus deren Chronik zählten Birgit Valder und Tochter Lara eine Fülle erschreckender Beispiele auch aus Aachen auf. Allein 436 antisemitische Straftaten gab es im ersten Halbjahr 2012, davon 403 aus dem rechtsextremen Milieu verübt. Birgit Valder mahnte: „Wir können Nazis zwar nicht ihre Gesinnung verbieten, aber zumindest ihr öffentliches Auftreten.”

Der junge Historiker Jens Lohmeier beschäftigte sich mit dem Komplex „Euthanasie und Holocaust – Zwei Seiten des nationalsozialistischen Rassenwahns”. In seinem bemerkenswerten Vortrag, der Eingang in den Schulunterricht finden sollte, belegte er die historischen Grundlagen und die Kontinuität eines seit dem vorvorigen Jahrhundert wachsenden rassistischen Antisemitismus’ auf der einen, basierend und genährt durch die sich verbreitende Auffassung und Lehre der Eugenik (Euthanasie) auf der anderen Seite.

Auch der Rabbiner von Aachen, Max Mordechai Bohrer, war gekommen. Er sprach das Totengebet, mit dem so ergreifenden an- und abschwellenden Sprechgesang, zuerst in Hebräisch, dann ins Deutsche wechselnd mit den einleitend so poetisch-erhabenen Wort „Erbarmungsvoller, in den Höhen thronender Gott…”

Ergreifend auch die von Illya Kiuila auf der Geige gespielten Stücke, Klezmermusik aus der jüdischen Volksmusiktradition, mal traurig erinnernd an einen Todesmarsch, mal jubilierend, den Holocaust überlebt zu haben, auch ein heiteres Kinderlied darunter und am Ende das „Shalom”, das Friedenslied.

Organisatorische Gründe hatten es mit sich gebracht, dass die Mahnwache nicht traditionell am Abend des 9. November begangen werden konnte, sondern erst am Sonntag, dem „Elften im Elften” ab 11 Uhr. Zwei Steinwürfe weiter also schunkelten sich am Kugelbrunnen rund 800 Fastelovvendsjecke mit „So ein Tag, so wunderschön wie heute” in die Session.

Doch Jecke und Mahner kamen sich akustisch nicht ins Gehege, auch nicht während der Schweigeminute vor der Synagoge. Wiewohl der UWG-Ratsherr Horst Schnitzler dabei ins Grübeln geriet, wie die Narren vor 74 Jahren noch hätten Karneval feiern können, wo doch die Synagoge schon in Schutt und Asche lag…

„Wir können Nazis zwar nicht ihre Gesinnung verbieten, aber zumindest ihr öffentliches Auftreten.“

Birgit Valder,

Chronistin

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