Do, 21. Aug. 2014
Aachener Nachrichten – Stadt / Blickpunkt / Seite 2
Das Thema: Irak
Die Verteidigungsministerin bekommt freie Hand für Rüstungslieferungen an die Kurden im Kampfgegen IS-Extremisten im Nordirak. Die Bundesregierung hält ein Bundestagsmandat dazu für unnötig.
Von Werner Kolhoff
Berlin. Was da gestern am Rande der Kabinettssitzung in kleinstem Kreis beschlossen wurde, ist eine außenpolitische Weichenstellung: Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) bekam die Erlaubnis, alles an die Kurden im Nordirak zu liefern, was die im Kampf gegen die islamistische IS brauchen. Nicht nur humanitäre Hilfsgüter, nicht nur passive Militärausrüstung, sondern auch Waffen. Der bisherige Grundsatz, Krisengebiete nicht noch aufzurüsten, wird damit aufgegeben.
Start in der kommenden Woche?
Neben von der Leyen nahmen Kanzlerin Angela Merkel (CDU), Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel, Außenminister Frank-Walter Steinmeier (beide SPD) sowie Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) an der Besprechung teil. Im Verteidigungsministerium werden jetzt die Lieferlisten zusammengestellt. Wenn sie fertig sind, soll noch einmal das sogenannte Sicherheitskabinett der wichtigsten Ressorts endgültig über die Transporte entscheiden. Ein erster Flug mit passiver Militärausrüstung –etwa Helmen und Nachtsichtgeräten – kann schon nächste Woche losgehen. Was die Kurden aber besonders brauchen, sind panzerbrechende Waffen („Milan“), Maschinengewehre, Granatwerfer und Munition. Nun wird in Abstimmung mit den anderen westlichen Verbündeten geklärt, welches Land was liefern kann. Ein entsprechender EU-Beschluss liegt bereits vor.
Die rechtliche Ausgangslage ist in Berlin bereits geprüft worden. Demnach ist kein Bundestagsmandat notwendig, weil es sich nicht um einen Auslandseinsatz von Soldaten handelt. Außen- und Verteidigungsausschuss sollen aber umfassend unterrichtet werden; eine Sondersitzung des Bundestags wäre denkbar, falls die Fraktionen das wünschen. Allerdings sind selbst die Oppositionsparteien unter sich bei dem Thema uneins.
Nach den Rüstungsexportrichtlinien von 2000 sind Waffenlieferungen in Krisengebiete streng verboten. Allerdings wird in der Regierung darauf verwiesen, dass die Richtlinien auch eine Ausnahme vorsehen, nämlich ein übergeordnetes sicherheitspolitisches Interesse Deutschlands. Das sei hier gegeben. Es gehe darum, die von IS bedrängten Christen, Kurden und Jesiden zu schützen und den Vormarsch der islamistischen Terroristen zu stoppen. An dieser Front kämpften die Kurden. Man könne nicht, sagt Steinmeier am Dienstagabend, den Kurden dafür auf die Schulter klopfen, „aber nicht helfen, wenn sie um Hilfe bitten“.
Außerdem heißt es in Berlin, dass die Lieferung kein klassisches Waffenexportgeschäft sei, denn die Kurden bekämen das Material gratis. „Es ist eine Ausrüstungshilfe“. Für die gibt es bisher keine Regelung, allerdings hatte man sich bisher auch hierfür immer an die Vorgaben der Exportrichtlinie gehalten: keine Waffen in Krisengebiete.
Ausdrücklich will die Regierung mit der Entscheidung aber ein „Tabu“ brechen, eine „neue Option“ eröffnen, wie es heißt. Deutschland hatte sich an Kriegen und Konflikten bisher entweder mit Geld (Erster Irak-Krieg), mit Ausbildungs- und Polizeimissionen (Mali) oder direkt militärisch beteiligt (Afghanistan, Kosovo). Aber nie mit Waffenlieferungen. Nun gibt es diese zusätzliche Möglichkeit. Politisch war das in der vergangenen Woche langsam vorbereitet worden, erst mit Steinmeiers Satz, dass man „bis an die Grenze des rechtlich und politisch Machbaren“ gehen müsse, dann mit von der Leyens Aussage, man wolle „nichtletale“ (nichttödliche) Militärausrüstung liefern. Kanzlerin Angela Merkel hatte bereits vor zwei Jahren gesagt, es könne in manchen Fällen besser sein, eine regionale Macht militärisch zu ertüchtigen, als selbst dort aktiv zu werden.
Allerdings wird in der Regierung bestritten, dass man die jetzige Entscheidung aus dieser strategischen Erwägung heraus fälle. Man stehe vielmehr unter dem Eindruck der ungeheuren Brutalität von IS und habe auch deren Stärke unterschätzt. Auf mehrere „zigtausend militante Kämpfer“ werden die Terroristen geschätzt, dazu kämen 18 000 bis 25 000 militante Sunniten, die sich ihnen von Fall zu Fall anschlössen. IS sei weit gefährlicher als die Taliban, weil sie auch über schwere Waffen und sogar Drohnen aus erbeuteten Beständen der irakischen Armee verfüge und diese dank ehemaliger Soldaten auch bedienen könne. Sie sei am ehesten mit der Hisbollah im Libanon zu vergleichen.
Das „Dilemma“ der Hilfe
Die kritische deutsche Öffentlichkeit glaubt man überzeugen zu können. Hier sei noch gar nicht angekommen, welches Risiko zurückkehrende IS-Kämpfer aus Deutschland bedeuten könnten, heißt es. Oder was geschehe, wenn IS im Nordirak auch die Kurden und die Flüchtlingslager überrenne. „Dann wird es heißen: Warum habt ihr nichts gemacht.“ Ernst genommen wird der Einwand, dass die Waffen womöglich von den Kurden genutzt werden könnten, um für ihren eigenen Staat zu kämpfen, womöglich gegen den Nato-Partner Türkei. Das könne man zwar nicht ausschließen, so Regierungskreise, doch setze man auf den neuen Regierungschef Al-Abadi, der ausdrücklich die irakischen Völker wieder vereinen wolle. Steinmeier räumte am Dienstagabend ein, dass die Militärhilfe ein „Dilemma“ eröffne. „Es gibt aber Situationen“, sagte er, „in denen kann man sich durch Unterlassen genauso schuldig machen wie durch Tun.“