NS-Medizin und die Ethik der Forschung

Mi, 5. Jun. 2013
Aachener Nachrichten – Stadt / Bildung / Seite 12

Kontakt

NS-Medizin und die Ethik der Forschung

Eine internationale Konferenz in Aachen fragt danach, wie die Taten aufgearbeitet wurden in Wissenschaft, Kunst und Öffentlichkeit

Von Axel Borrenkott

Aachen. Wie hat die Ärzteschaft, wie hat die Wissenschaft das verwerfliche und verbrecherische Handeln von Medizinern in der Nazizeit aufgearbeitet? In welcher Form hat sich die Literatur, haben sich andere Künste mit den Vorgängen befasst? Wie haben diese Auseinandersetzungen die öffentliche Meinung beeinflusst? Welche Erkenntnisse lassen sich aus diesen Diskursen für eine Ethik der Forschung ziehen, und was bestimmt überhaupt die öffentliche Diskussion um ethische Maßstäbe in Forschung und Wissenschaft? Weit mehr als Vergangenheitsbewältigung ist das Programm einer bemerkenswerten Tagung zum Ende der Woche an der RWTH.

„Wir erkennen die wesentliche Mitverantwortung von Ärzten an den Unrechtstaten der NS-Medizin an und betrachten das Geschehene als Mahnung für die Zukunft. Wir bekunden unser tiefstes Bedauern darüber, dass Ärzte sich entgegen ihrem Heilauftrag durch vielfache Menschenrechtsverletzung schuldig gemacht haben. Wir gedenken der noch lebenden und der bereits verstorbenen Opfer sowie ihrer Nachkommen und bitten sie um Verzeihung.“

Spätes Bekenntnis der Ärzteschaft

Klipp und klar bekannte sich der Deutsche Ärztetag auf seiner Tagung im Mai vergangenen Jahres in seiner „Nürnberger Erklärung“ zum Versagen eines großen Teils der Medizinerzunft im „Dritten Reich“. Bewusst war für diese Erklärung der Ort des Ärzteprozesses 1946/47 gewählt worden.

Ganze 20 Ärzte waren damals angeklagt. Die spätere Forschung hatte allerdings gezeigt, dass das Ausmaß der Menschenrechtsverletzungen „noch größer war, als im Prozess angenommen“. Mehr als 200 000 psychisch kranke und behinderte Menschen waren getötet, mehr als 360 000 als „erbkrank“ klassifizierte Menschen zwangssterilisiert worden. Auch das stellt die Erklärung fest.

Darüber hinaus räumt sie auch eindeutig mit zwei Annahmen auf, die jahrzehntelang die Verteidigungsstrategie sowohl von unmittelbar Beschuldigten wie auch der organisierten Ärzteschaft nach dem Krieg bestimmt hatten: „Im Gegensatz zu noch immer weit verbreiteten Annahmen ging die Initiative gerade für die gravierendsten Menschenrechtsverletzungen nicht von politischen Instanzen, sondern von den Ärzten selbst aus.“

Und: „Diese Verbrechen waren auch nicht die Taten einzelner Ärzte, sondern sie geschahen unter Mitbeteiligung führender Repräsentanten der verfassten Ärzteschaft sowie medizinischer Fachgesellschaften und ebenso unter maßgeblicher Beteiligung von herausragenden Vertretern der universitären Medizin sowie von biomedizinischen Fachgesellschaften.“

Ein eindrucksvolles, wenngleich recht spätes Bekenntnis. Vier Jahre zuvor hatte ein Forschungsprojekt an der RWTH begonnen, das Verhalten speziell der „Leitenden Aachener Klinikdirektoren im Dritten Reich“ aufzudecken. Auch dies ein überfälliges Bemühen, wissenschaftlich dingfest zu machen, was verstreut und zum Teil auch namentlich schon länger bekannt war.

Eine neue Erkenntnis war jedenfalls die Dimension: Aachen war ein regelrechter Hort für Nazi-Mediziner und keiner wurde je zur Rechenschaft gezogen. Das Forschungsprojekt mündete bislang, neben mehreren Aufsätzen, in zwei sehr aufschlussreiche Dissertationen, die anhand von Einzelbiografien das Verhalten der Ärzte vor und nach der Nazizeit dokumentieren und einiges Aufsehen in der Öffentlichkeit erregten.

Entstanden sind die Arbeiten am Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin. Dessen Direktor, Dominik Groß, ist auch einer der beiden Verantwortlichen für die internationale Konferenz „NS-Medizin und Öffentlichkeit“. Der andere ist Stephan Braese vom Institut für Germanistische und Allgemeine Literaturwissenschaft.

Das beachtliche interdisziplinäre Vortragsspektrum an diesem Freitag und Samstag deckt zahlreiche Aspekte ab, die im Untertitel der Veranstaltung formuliert sind: „Formen der Aufarbeitung nach 1945 als Erneuerung einer Ethik der Forschung“.

Die Themen reichen von „Der Nürnberger Ärzteprozess in ‚Spiegel‘ und ‚Die Zeit‘“ über eine Betrachtung der Ärztefiguren etwa in Rolf Hochhuts Drama „Der Stellvertreter“ (1963) oder in „Die Ermittlung“ (1965), dem Drama von Peter Weiss um den Auschwitz-Prozess, bis zu Josef Mengele, dessen Menschenversuche in Auschwitz Peter Schneider in seinem Roman „Vati“ (1987) in einer Vater-Sohn-Problematik thematisiert.

„Das Symposium“, heißt es in der Begründung, „fragt nach der Bedeutung, die heute – 68 Jahre nach Ende des NS-Regimes – den Verbrechen von NS-Medizinern in der öffentlichen Diskussion über Ethik in Forschung und Wissenschaft zukommt.“ Vor allem verspreche man sich davon „neue Aufschlüsse über jene Dynamiken, die auch die aktuelle Diskussion um Ethik in Forschung und Wissenschaft bestimmen“. Und da, sagen Groß und Braese, habe die Forschung noch einiges aufzuholen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.