Bitteres Unrecht oder notwendiges Recht?

Mi, 5. Jun. 2013
Aachener Nachrichten – Stadt / Region AN Titel / Seite 9

Bitteres Unrecht oder notwendiges Recht?

Karlsruhe verhandelt seit gestern über Enteignungen wegen Garzweiler II. Der Ton ist gepflegt, das Vorgehen des Gerichts akribisch.

Von Johannes Nitschmann

Karlsruhe. Im Saal des Bundesverfassungsgerichts herrscht drangvolle Enge, als der Senatsvorsitzende Ferdinand Kirchhof an diesem Dienstagmorgen die mündliche Verhandlung über den Braunkohlentagebau Garzweiler II eröffnet. Neben den Beschwerdeführern und dem beklagten Bergbauunternehmen hat das höchste deutsche Gericht Vertreter der Bundesregierung, der NRW-Landesregierung sowie zahlreiche Sachverständige nach Karlsruhe geladen. Das Gericht werde in diesem Verfahren zu prüfen haben, „ob und inwieweit die mit dem Tagebau Garzweiler angestrebte Gewinnung von Braunkohle ein Enteignungen tragendes Gemeinwohlziel verfolgt“, erklärt der Senatsvorsitzende Kirchhof zu Beginn der mehrstündigen mündlichen Verhandlung.

In der ersten Reihe des Verhandlungssaales sitzt Stephan Pütz, der flankiert wird von seinen Anwälten und Vertretern des Bundes für Umwelt und Naturschutz (BUND). Der 50-jährige Kripokommissar aus Erkelenz-Immerath soll mit seinem Haus 2017 dem europaweit größten Tagebau weichen. Garzweiler II ist längst aufgeschlossen und soll sich in der Endausbaustufe auf 48 Quadratkilometer im rheinischen Braunkohlenrevier erstrecken. Durch das gigantische Tagebauvorhaben sieht Pütz seine verfassungsrechtlichen Grundrechte auf Eigentum und Freizügigkeit, konkret sein Recht auf Heimat, eklatant verletzt. Annähernd 8000 Menschen in 18 Ortschaften im Städtedreieck zwischen Aachen, Mönchengladbach und Düsseldorf droht bis 2045 die Umsiedlung, weil RWE Power in dieser Tagebauregion bis zu 1,3 Milliarden Tonnen Braunkohle abbaggern will.

Senat scheint keineswegs einig

Kläger Pütz lässt vor dem Bundesverfassungsgericht zunächst seine Anwälte sprechen. Für die Braunkohle aus Garzweiler II gebe es im Zeitalter der bundesdeutschen Energiewende weder einen „tatsächlich hinreichenden Bedarf“ noch „einen ausreichenden volkswirtschaftlichen Nutzen“, sagt der Verwaltungsrechtler Dirk Teßmer. „Ohne diesen Tagebau würde in Deutschland nicht das Licht ausgehen.“ Bereits bei der Genehmigung von Garzweiler II Ende der 90er Jahre hätten die erneuerbaren Energien einen Anteil von sechs Prozent an der Stromerzeugung in Deutschland gehabt. Dies sei ungefähr das Volumen der verstromten Kohle aus Garzweiler II.

Einige Mitglieder des achtköpfigen Senats schauen skeptisch. Jeder Energieträger habe „Nachteile“, sei andererseits aber auch jeweils „für sich ersetzbar“, wirft Verfassungsrichter Johannes Masing ein. „Aber wir können auch nicht alles durch gar nichts ersetzen.“ Masing wurde 2008 auf Vorschlag der SPD in den ersten Senat des Bundesverfassungsgerichts gewählt. Der Senat scheint sich in seiner Beurteilung der Verfassungsbeschwerde gegen Garzweiler II keineswegs einig zu sein. Verfassungsrichter Reinhard Gaier scheinen die Rechte der Tagebauanwohner arg unterbelichtet zu sein. „Kann es sein, dass hier nach dem Prinzip ,teile und herrsche’ verfahren wird?“, fragt Gaier spitz den Abteilungsdirektor Joachim Diehl, der bei der Kölner Bezirksregierung für die Geschäftsstelle des Braunkohlenausschusses zuständig ist. Diehls Redefluss gerät ins Stocken, als er dem Gericht erläutern soll, welchen konkreten Einfluss die Anwohner des Tagebaus auf dessen Planung nehmen konnten.

Weniger druckst da der Vertreter der rot-grünen Landesregierung herum. Auf die Frage des Senatsvorsitzenden, ob Garzweiler II „speziell austauschbar“ sei, antwortet der Staatssekretär aus dem Wirtschaftsministerium, Günther Horzetzky (SPD): „Das ist ein dicker Brocken, der nicht einfach ersetzt werden kann.“ Die derzeit aus Garzweiler II geförderte Braunkohle – zwischen 36 und 40 Millionen Jahrestonnen – habe gegenwärtig immerhin einen Anteil von sechs Prozent an der deutschen Energieerzeugung. Ein Verzicht auf diesen Tagebau würde somit „unmittelbar auf die Stromversorgung in ganz Deutschland durchschlagen“.

Im Gegensatz zu Horzetzky hält sich der ihn flankierende Staatssekretär aus dem von den Grünen geführten NRW-Umweltministerium, Peter Knitsch, auffallend zurück. Dafür ergreift der Dürener Bundestagsabgeordnete Oliver Krischer das Wort, der in der Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht die Bundestagsfraktion der Grünen vertritt. „Der Boom der regenerativen Energien“ sei beim Aufschluss von Garzweiler II längst vorhersehbar gewesen, behauptet der Grüne. Deshalb sei das Tagebauprojekt unsinnig.

Die energiepolitischen Konflikte zwischen den rot-grünen Koalitionären in Düsseldorf sind so alt wie die Planungen für Garzweiler II. Inzwischen wollen aber auch die Sozialdemokraten nicht mehr ewig an der Braukohle festhalten. Ziel sei es, „die Energieversorgung konsequent und schnellstmöglich auf erneuerbare Energien umzustellen“, bekundet Wirtschafts-Staatssekretär Horzetzky vor Gericht. Aber niemand könne derzeit sicher prognostizieren, wann ein Ausstieg aus der Braunkohle tatsächlich möglich sein werde.

Das Bundesverfassungsgericht macht bei Garzweiler II keinen kurzen Prozess. Bereits seit 2008 kämpfen sich die Karlsruher Richter durch Berge von Akten. Auch an diesem Dienstag verhandeln sie mit Akribie und Energie. Stunde um Stunde bis in den Abend hinein. Der Ton ist gepflegt. Ruppig wird es lediglich, als der Rechtsbeistand des Bergbauunternehmens RWE Power, Dieter Sellner, die Zulässigkeit einer der beiden Verfassungsbeschwerden bezweifelt.

Das Urteil des Bundesverfassungsgericht soll im Herbst dieses Jahres verkündet werden.

BUND bringt den „Garzweiler Flächenbrand“ mit in den Gerichtssaal

Neben Stephan Pütz aus Immerath hat auch der Naturschutzverband BUND Verfassungsbeschwerde eingelegt, nachdem dessen Streuobstwiese im Braunkohlenrevier zwangsenteignet und bereits 2006 abgebaggert wurde. Der BUND habe die Obstwiese erst 1997 erworben, als die Planung von Garzweiler II nahezu abgeschlossen gewesen sei, erklärt RWE-Anwalt Dieter Sellner. Hier sei erkennbar ein so genanntes „Sperrgrundstück“ erworben worden, um das Tagebauprojekt aus politischen Gründen zu verhindern. Dies aber stelle „einen Rechtsmissbrauch“ dar. Der BUND weist diese Vorwürfe energisch zurück. Schließlich gehöre der Betrieb von Streuobstwiesen zu den satzungsgemäßen Aufgaben des Naturschutzverbandes, versichert Anwalt Dirk Teßmer. Hier seien seltene Apfelsorten angepflanzt und nach der Ernte zu Obstbrand verarbeitet worden – ein Exemplar des „Garzweiler Flächenbrandes“ steht auf dem Tisch im Gerichtssaal. Der Senatsvorsitzende Kirchhof zieht diesen Hintergrund in Zweifel: „Der BUND versteht sich doch wohl nicht als Obstanbaufirma.“

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